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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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gehen solche akustischen Minimalschauplätze in der Musik unter. Für gewöhnlich achte ich selbst nicht auf sie. Hätte ich Drogen genommen, denke ich, könnte ich meine Hypersensibilität auf die schieben.
    Stattdessen schiebe ich sie auf dich. Auf deine wachsamen Wolfsaugen dort unten. Du bist hier. Dich kann ich riechen wie keinen sonst.
    Auch die anderen Menschen rieche ich. Ihre Gerüche sind warme Farbwolken. Sie malen mir ein erstaunlich genaues Bild, scheinwerferblind, wie ich bin. Es sind andere Dinge, die ich über Menschen erfahre, wenn ich sie rieche statt sehe, Elementardaten, markant, irrational, viel schwerer in Worte zu fassen als das Aussehen einer Person. Aber vielleicht, denke ich, passt Riechen sehr viel besser zu meiner Musik als Sehen.
    Der Bassmann spielt einen Tick langsamer als sonst. Er spürt meine Vorsicht, spürt, dass ich länger als sonst in der Reserve bleibe. Als müsse ich meine Musik neu kennenlernen, als klettere ich durch unbekannte Schluchten. Der Bassmann spielt entwaffnend gut, therapeutisches Feingefühl, denke ich. Mit der Langsamkeit erscheinen mir die Abgründe zwischen den Tönen, die Leere zwischen den Worten allerdings wie klaffende Mäuler. Die Anstrengung, meine Lieder als sinniges Gefüge zu hören, wird immer größer. Mein unverwandtes Gefühl, dass die Welt ständig im Zusammenbrechen begriffen ist, denke ich, gehört zu meiner Musik. Aber während sie sonst dasjenige Element ist, dass auch im Zerfallen und Zerfließen schön bleibt, dessen Schönheit sogar im Zerfallen und Zerfließen erst entsteht, bröckelt sie mir jetzt unter den Fingern weg, unkontrolliert, formlos. Ich kann meine Gedanken weder abstellen noch klar fassen, die Gitarrenhände, die Stimmbänder laufen auf Autopilot. Würde der Bassmann einen Fehler machen, ich weiß nicht, ob ich reagieren könnte. Aber er macht keinen Fehler.
    Einen kopflosen Moment lang halte ich den Bassmann und dich für ein und denselben. So bist du hinter mir, so bist du vor mir, gleichzeitig. Gern hätte ich dich doppelt um mich. Du bist vielleicht das Einzige auf dieser Welt, das mir keine Angst macht. Ein letztes Mal strenge ich die Augen an, will endlich sehen, wo du bist, aber das Licht macht mich blind für alles jenseits der Bühne.
    Für die Regisseure meines Kopfkinos ist diese Blindheit ein gefundenes Fressen, oder besser gesagt, die perfekte Leinwand. Ich sehe Rummelplätze, Marktplätze, einen Schulhof, rieche die Orte sogar, Zuckerwatte, Seifenduft und Frühlingsbrisen. Du begegnest mir als krawattentragender Oberstufenschüler, als Kaffeetrinker in der Stadt, als stattlicher Schwanz in der Badewanne. Du reitest als kleiner Junge neben mir auf einem Karussellpferd, bist bei Kindergeburtstagen, bei Abschlussbällen, bei Auftritten, bist da, wenn ich Erfolge feiere, wenn ich Zusammenbrüche erleide. Rückwirkend ernennt dich die Illusionistentruppe in meinem Kopf zu dem Zwillingsbruder, zu dem Intimus, den ich nicht hatte. Sie spielen mit dir wie Kinder mit einer Puppe, anziehen, ausziehen, abrupte Szenenwechsel. Du wärst Ballonfahrer. Du wärst Privatdetektiv. Ich wäre auf der Flucht. Du ein tibetischer Mönch. Ich dein heimlicher Besuch. Du hättest Fieber. Ich wäre dein Alptraum. Und so weiter und so weiter.
    Irgendwo aus den Hirngespinsten kommt eine neue Laune, eine tragfähige Laune, eine Fluglaune. Meine Hemmung platzt endlich ab. Ein Handgriff, die elektronischen Zuspielungen setzen ein, mein Rhythmus wird stabiler. Ich greife tiefer in die Saiten. Der Bassmann geht mit. Allmählich nehmen wir den Saal ein.
    Erst als der Bassmann vortritt und sich verbeugt, bemerke ich, dass schon Schluss ist. Die zweite Hälfte des Auftritts verging wie im Flug. Der Bassmann grüßt in die Runde und schlurft auf seinen Platz zurück. Bereitwillig verbeuge auch ich mich, alles schallt und hallt, Beifall, Pfiffe, Stimmgewirr. Die mächtige Geräuschwand, die mir sonst Hochstimmung verursacht, klingt heute anders, Applausrauschen, Krawall, Alpbrausen, denke ich. Ich kämpfe mit Schwindelgefühlen.
    Zugabe, Zugabe, höre ich. Küss mich, höre ich. Durchsage, Schellfisch, höre ich. Männerstimmen, Frauenstimmen, Bassgeräusche und Feuerknistern, kein Fiepsen, zum Glück kein Fiepsen, nur diese Wand, anschwellend, abschwellend. Zugabe. Bück dich. So hört sich mein Kopf von innen an. Ich weiß nicht, welche Rufe echt sind und welche er sich dichtet. Mehr Licht, Lustgarten, höre ich, Hundstage. Ich muss von der Bühne,

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