Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
die grauen Plugs kommentarlos in die Ohren, nach kurzem Zögern tut Lars es uns gleich. Ins Break Stuff sollte nur gehen, wer ordentlich gegessen hat und einigermaßen ausgeschlafen ist, denke ich. Eine solche Nacht ist der reinste Kampfsport. In der Mitte der Tanzfläche muss man mindestens mit blauen Flecken rechnen. Lars verschweige ich das. Er ahnt sowieso inzwischen, worauf er sich eingelassen hat. Der Bassmann geht gelassen voran.
    Die Musik empfängt uns mit einer schallenden Ohrfeige. Crashbecken, Snares, scharrende Gitarren und das rhythmische Flattern in der Magengrube, Bassdrums, wieder und wieder, darunter dreckige Industrials. Überdimensionierte Boxen bringen die Luft zum Vibrieren, elektronische Wetterfronten gehen auf Kollisionskurs. Binnen Sekunden bin ich mitten in der tobenden Menschenmenge, von null auf hundert, verliere den Blickkontakt zu den anderen. Ich tanze wie ein Derwisch. Ein paar Stunden lang werden weder Mattheit noch Schmerz die rasende Musik durchdringen. Mir ist klar, dass ich büßen werde. Ich habe weder gegessen noch geschlafen.
    Ich kann die Musik sehen. Sie pumpt Projektile durch den Raum, bleigrau und stahlträgerdick. Sie flicht Drähte durch den Diskodunst, lässt Zahnräder ins Fleisch der Tanzenden beißen, krallt und kerbt. Wer im Break Stuff tanzt, wird schnell zum Zombie, willenlos zerfetzt, oder zur Maschine, zum Cyborg, das macht die Musik. Ich versuche, die Energie jedes Schlags für mich zu nutzen, aus jedem Angriff mein eigenes Manöver zu machen, in Bewegung zu bleiben. Die Menschen sind elektrifiziert, keine Individuen mehr, sondern eine Masse zuckender Muskeln, zerflossener Schminke. Ich weiche herrenlosen Gliedern aus, versuche mich durch das Räderwerk zu winden, katzenhaft, und reibe mir dennoch die Sinne wund. Am Ende gewinnt immer die Musik.
    Selten begegnet mir ein Paar Augen, das nicht zombifiziert ist, nicht blicklos im Nirgendwo hängt. Selten sieht mich überhaupt jemand an, so dass ich irgendwann nach Lars Ausschau halte. Er tanzt leicht abseits, im Schutz einer Betonsäule, eine Bierflasche in der Hand. Ich kämpfe mich hinüber. Da Unterhalten unmöglich ist, bleibt es bei Grimassenschneiden und Zeichensprache. Lars bedeutet mir lachend, dass er heilfroh über seine Ohrstöpsel ist. Ich gestikuliere fragend, ob ihm die Musik nicht gefalle. Er hebt die Daumen, nein, nein, alles in Ordnung. Er bietet mir von seinem Bier an. Ich trinke. Wir tanzen. Aber ich komme an seiner Seite nicht in Schwung und will mir ebenfalls ein Getränk holen.
    Plötzlich greift mir jemand auf die Schulter. Ich drehe den Kopf und sehe einen ausgebleichten Haarschopf, der gerade rücklings von einem wandernden Lichtkegel durchleuchtet wird. Es ist Peer. Er muss seine Begrüßung dreimal schreiend wiederholen, bevor ich irgendwas verstehe. Ein Mundvoll Eukalyptus kommt mir bei jedem seiner Schreie entgegen. Peer, Peer, warum bist du immer überall, denke ich. Als hätte er gewusst, wohin ich will, streckt er mir eine bunte Flasche entgegen. Die ganze Nacht lang, wann immer ich Richtung Bar taumle, steht Peer mit einem Getränk für mich da. Er bringt mir Alkopop um Alkopop, rote, sonnengelbe. Ich trinke. Mit Borg und dessen Bruder scheint Peer sich auch angefreundet zu haben, die drei stehen beisammen und beobachten den Club.
    Die Menschenmenge in der Mitte des Clubs wird immer dichter. Ihr Tanz, ihre Spasmen gleichen einer rhythmischen Prügelei, einem Gewaltritual. Ich pralle immer wieder an Hüften und Ellenbogen ab. Das Verschmelzen fällt mir heute schwer. Es sind zu viele Menschen, zu viele Betrunkene. Sie stinken. Sie rempeln und treten. Ich falle aus der Musik und bringe mich in Sicherheit, an eine weniger umkämpfte Stelle, links der Bar. Als ich bemerke, dass Lars mich mustert, gedankenverloren, nicht als Freundin, sondern als Frau mustert, gleite ich wieder in die Musik. Es passiert von allein. Plötzlich passt der Rhythmus, angegossen, ein verloren geglaubter Handschuh. Ich lasse mich fallen, endlich fallen, Lars’ Blicke sind das Öl auf meiner Haut, machen alles geschmeidig, der Schmerz vergeht. Die Bässe pulsieren wie Herzschlag. Welcher Herzschlag meiner ist, welcher von der Musik kommt, ich weiß es bald nicht mehr. Ein harter Kern in meinem Inneren beginnt zu zerfallen, löst sich Track um Track in Wohlgefallen auf und alle Vorsicht mit ihm. Dieses Dröhnen gehört zur großen Weltsinfonie, denke ich, genauso wie Beatles und Stones, genauso wie Beethovens

Weitere Kostenlose Bücher