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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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der Mann, der Prinz, der Räuber gewesen. Ich erfand Spielszenarien, die das Sichwinden auf der Matratze einigermaßen unverdächtig aussehen ließen. Eine Sumpfszene zum Beispiel, in der wir in einen bösen, verschlingenden Sumpf geraten waren und uns in höchster Not zu befreien versuchten. Oder ein Szenario, in dem unsichtbare Angreifer mich zu Boden drückten und ich nicht anders konnte, als mich hilflos in deren Griff zu winden. Freilich hatte ich wenig Ahnung von irgendwas, hatte keine Worte für mein Tun. Nur dass irgendein Geheimnis an der Sache hing, das wusste ich. Dass es Erwachsene verwirrte, wenn sie mich dabei entdeckten. Dass sie schockiert waren. Mein Schneewittchen war nie schockiert. Höchstens ein wenig ungeduldig, wenn ich allzu lange brauchte, mich aus dem Sumpf zu ziehen. Erst Jahre später wurde mir klar, dass Moritz eifersüchtig auf das Schneewittchen gewesen sein muss. Sie war mir lange nicht so nah wie er. Aber wenn sie mich besuchte, mich mit ihrem Gänsehautstimmchen betörte, war er außen vor und sein Schwesterchen in einen Räuberhauptmann, einen Schweinehirten oder einen Drachentöter verwandelt.
    Ich hätte diese Freundin vermutlich vergessen ohne den Traum der letzten Nacht. In meinem Traum war sie erwachsen und trug ihr dunkles Haar kinnlang. Sie schlang sich ihren roten Wollpulli um die Hüften. Wir gingen durch den Central Park und aßen frittierte Krabben aus einer Pappbox. Warum es unbedingt der Central Park sein musste, keine Ahnung.
    Wir schlendern also über einen der Fußwege. Ich kann New York nicht sehen. Aber ich höre, spüre die Stadt im Hintergrund. Plötzlich rennt ein kleines Mädchen zu uns. Es hat ein gestreiftes Kleid und zwei braune Zöpfe. Meine Freundin bindet dem Mädchen die Schuhe und lässt es wieder laufen. Meine Tochter, sagt sie. Der Vater ist abgehauen, sagt sie und nimmt sich lachend einen Krabbenschwanz. Als wäre es ihr gerade recht.
    Ich wache auf einem bekritzelten Papierstück auf, schäle das Blatt von meiner Backe, streiche es glatt. Das Ideenblatt von gestern. Auf der Rückseite ein unfertiger Songtext, den werde ich in Form bringen müssen. Es geht um Alltag, Illusionen und um Karussellpferde. Es geht um Stolz, Verliebtheit und formale Logik. Ich weiß nicht mehr, worum es geht. Enttäuscht schiebe ich die Beine aus dem Bett und trinke die Mineralwasserflasche leer. In Gedanken gehe ich die kommenden Tage durch, Proben, Auftritte, danach ein Besuch bei meiner Großmutter, Flucht. Ich wanke hinüber zum Telefon. Checke das Anruflog. Gestern ein paar unbekannte Nummern. Und der Anruf heute Morgen. Der war von dir.

    Unterseelaute
    Lars hat mir seinen Saab geliehen. Ich parke das Schiff im Hinterhof des Clubs. Der Club ist eine umgebaute Maschinenhalle, ich war dreimal hier, zweimal als Gast, einmal bei einem Wettbewerb für junge Musiker. Heute, beim vierten Mal, gestalte ich den Abend selbst. Die Veranstalterin kommt mir entgegen, strahlend, trägt Jeans und eine Nadelstreifenweste, Sonnenbrille im Haar, führt mich in ihr Büro. Der Bassmann ist schon da, nippt an einem Becher Automatenkaffee, wir unterschreiben ein Papier und gehen backstage. Ich stecke mit zitternden Händen ein paar Haarsträhnen fest.
    Als ich auf die Bühne trete, hallen mir lautes Gerede, Klatschen und Rufen entgegen. Ich trete in die Bühnenmitte, hefte meinen Blick auf den Boden. Stehe reglos, bis sich eine bleierne Stille senkt. Ich kann die Ecken des Raumes fühlen. Der ganze Saal gerät in eine Rückkoppelung mit mir, das Publikum wirft meine Stille ungefiltert zurück. Die Menschen sind ein riesiger Spiegel, ein monströser Reflektor, mein eigenes Lampenfieber tritt mir überlebensgroß entgegen, und für einen Moment befürchte ich, meinen Mund niemals wieder öffnen zu können. Eine Zunge liegt am Grund meines Mundes, als flacher, trockener Kieselstein, unschlüssig, ob sie meine ist.
    Die ersten Klänge sind ein Sprung ins kalte Wasser. Sturzbachartig lasse ich Arpeggio um Arpeggio regnen. Meine Stimme schlingt sich um die Regensäulen, lehnt sich gegen den Bass. Mein Luftholen, durchs Mikrofon in den Raum hinein verstärkt, hat einen eigenen Rhythmus, Kontrapunkt, Gegenrhythmus zum eigentlichen Lied. Ich höre all die kleinen Geräusche, ein Lied im Lied. Das Schleifen meiner Finger auf den Saiten, wie der Bassmann auf den Bühnenboden tappt, sogar die kleinen Klicklaute des Speichels in meinem Mund. Ich weiß, dass kein Mensch darauf achtet. Für gewöhnlich

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