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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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drei Gläser Wein, bevor ich meine Tasche unterm Tisch herausfische und meiner Pechvogelfrau gute Besserung wünsche.
    Draußen ist es kühler geworden. Hinter Verkehrsinselrosen und Parkuhren versinkt der Tag. Meine Gedanken werden zu Rabenflügeln, flattern alle Sonnenblumen aus meinem Kopf. Die gelben Blättchen segeln verdorrt über den Asphalt. Ein Boot voll Gedanken legt ab, die Idioten rudern zu dir. Drei Tauben trudeln aus einer Turmuhr und ich ihnen nach. Ich überquere eine rote Ampel.
    Gegenüber steht eine Frau, die mir nicht aufgefallen wäre, mittelgroß, mittelalt, mittelhübsch und gewöhnlich gekleidet. Ich hätte sie sicherlich übersehen, wenn sie nicht wie festgewurzelt dastünde und heftig den Kopf schüttelte. Ihr Blick spießt mich auf. Sie meint tatsächlich mich. Es ist ein verneinendes Kopfschütteln, kein verständnisloses. Ich lächle nur, ich, die Verständnislose, und gehe weiter.
    Eigentlich will ich mich umdrehen und fragen, warum ich nicht über rote Ampeln gehen soll. Jeder geht über rote Ampeln, denke ich. Die Frau muss einen guten Grund wissen, es nicht zu tun. Aber ich gehe weiter.

Kormorane
    Matti pflückt den Strohhalm aus seinem Wodka Cola und zwirbelt ihn zwischen den Fingern. Lora hat die Augen halb geschlossen und bläst Rauchkringel an die Decke. Borg und sein Bruder sind in ein langsames Kopfnicken verfallen. Der letzte Song versickert im Teppichboden.
    »Ich find’s gut«, sagt Lora.
    Der Bassmann und ich haben die vier als Testpublikum engagiert, das Wohnzimmer der Goldlaube zum Konzertsaal gemacht, Meinungen gesammelt, Kritiken gehört. Der Bassmann bedankt sich und stellt ein paar Rückfragen. Ich kritzle Ideen auf ein Blatt Papier, krumme Minuskeln, die außer mir niemand lesen kann, halte inne, höre zu, kritzle weiter. Dann frage ich, ob wir tanzen gehen. Borg grinst. Sein Bruder hebt die Augenbrauen. Beide haben dasselbe breite Russengesicht. Neben seinem Bruder sieht Borg plötzlich wie ein Schwergewichtsboxer aus.
    »Ich brauche jetzt was Heftiges um die Ohren«, sage ich.
    Das Gefühl von Strom in der Luft, denke ich weiter, der die Härchen auf meinem Körper ausrichtet, Schweißgeruch und stahlgebürstete Tanzflächen, das brauche ich jetzt.
    »Break Stuff«, sagt Borg.
    Sein Bruder lässt die Augenbrauen erst sinken, nachdem Borg ihm erklärt hat, wovon wir sprechen. Dass man sich im Break Stuff, einer Kellerdisko in der Oststadt, auf die härteren Musikstile spezialisiert habe. Dass seine Mitbewohnerin ein tanzwütiges Ding sei. Ihre Ausraster habe. Ich winke ab.
    »Abfahrt in dreißig«, sagt Borg.
    Der Bassmann sieht heute zur Abwechslung ganz zufrieden aus, sagt, dass er mitkomme. Borg kippt eine Handvoll Salzstangen in ein Glas. Dann verschwindet der Schwergewichtler im Keller, sucht seine Zigaretten, macht sich ausgehfein. Borgs großer Bruder beginnt sich mit dem Bassmann zu unterhalten. Er heißt Lars, ist Psychotherapeut, und außer dem Russengesicht fällt mir ein Holzpferdchen auf, das er an einem Lederband um den Hals trägt. Es hängt da wie ein einzelner Buchstabe, starr, zusammenhanglos. Er komme nicht jeden Sommer zu Besuch, sagt Lars. Aber dieses Jahr habe er sein Kleinstadtleben, das er zwanzig Kilometer nördlich von hier führe, zurückgelassen, die Praxis ruhe, die Familie habe er zur Großmutter ans dänische Wattenmeer geschickt.
    Lars fragt mich, ob er mit seinen Klamotten überhaupt ins Break Stuff reinkomme. Klar, sage ich, schwarz geht immer, mustere sein Hemd und denke an dich. An deine schwarzen Hemden und an die Art, wie du sie ausfüllst. Wie sich dein Thorax unter der feinen Baumwolle spannt, wie dein Wolfsherz darunter schlägt, wie die Knopfleiste in deiner Hose verschwindet. Lars hier hat ungefähr deine Statur.
    Wir knabbern die Salzstangen. Aus der halben Stunde werden anderthalb. Schließlich packt Lars seinen Bruder, den Bassmann und mich in seinen Saab. Matti und Lora wollen nachkommen.
    Als der Wagen ins Parkhaus rollt, bemerke ich, dass es dasselbe Parkhaus ist, auf dessen Sonnendeck du mich schwindelig geküsst hast, vor Wochen, die mir wie Monate vorkommen. Die roten Stahltüren, die spiralförmigen Auffahrten, die petrolfarbenen Doppelstreifen an der Wand, kurz ergreift mich Panik. Ich will den Ort nicht wiedersehen. Ich will nicht wissen, wie leer er nun ist, wie anders, wie tot.
    Der Basspegel des Break Stuff wummert bis auf die Straße herauf. Borg steckt Lars und mir je ein Paar Ohrstöpsel zu. Ich schiebe

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