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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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nach ihrem Sex. Du antwortest geduldig. Wie auf großer Leinwand malst du mir dein Leben mit ihr. Meine Augen wandern durch das großflächige Opus, verweilen auf Feinkostpartys und Varietébesuchen, auf Fußmassagen, auf nächtlichem Gekicher in Reizwäsche, auf Selbstzweifeltränen, Morgenmarotten und auf Damlas mutterrunden Brüsten. Gegen all die Szenen, die sich in meinem Kopf abgespielt hatten, ist das Bild beinahe harmlos. Ich könnte nicht beschreiben, worin seine Harmlosigkeit besteht, vielleicht ist es seine Farbigkeit, vielleicht der Ton deiner Stimme. Jedenfalls beruhigt es mich, so viel Handfestes über Damla zu hören.
    »Wieso willst du das so genau wissen?«, fragst du am Schluss.
    »Es tut gut«, sage ich und zucke verlegen mit den Schultern. Jede Wahrheit, denke ich, ist gnädiger als meine Fantasie.
    »Und wenn ich dich nicht vermisst hätte? Würdest du es dann auch so genau wissen wollen?«
    »Dann vielleicht nicht. Aber dann wärst du auch nicht hier.«
    Du deutest ein Kopfschütteln an. Lächelst. In mir wallt Wärme hoch. Als hätte sich meine Realität vergoldet, sehe ich glänzende Auren um die Cocktailgläser, den Barmann, um die eigenen Hände. Wasch deinen Schwanz und komm mit, will ich rufen, will ich lachen, will ich herausblubbern wie ein kleiner Unterwasservulkan.
    Stattdessen frage ich nach den Früchten an deinem Cocktail. Ich darf sie essen. Nachdem die letzte Kirsche zwischen meinen Zähnen zerplatzt ist, signalisiere ich Aufbruchsbereitschaft. Ich lege mein Halstuch um. Hole die Gitarren und verabschiede mich von der Veranstalterin.
    »Wir sehen uns?«, fragst du.
    »Wir sehen uns.«
    Ich trete einen Schritt zurück, in jeder Hand eine Gitarre, deute einen kleinen Knicks an und gehe. Küsse dich nicht. Keine Umarmung. Kein Körperaneinanderpressen. Ich bin nicht gierig. Es hat keine Eile mit dir. Ein Instinkt sagt es mir. Ich gehe. Lasse alle Spannung im Raum, sie gehört nun dir. Jetzt darfst du sie eine Weile haben.
    Die Halle ist lang. Ich bahne mir meinen Weg durch die Häufchen von Menschen, Bonbonpapieren und Bierflaschen zum Ausgang. Ein paar Leute nicken mir zu. Die Flügeltüren an der Stirnseite des Saals sind weit geöffnet, es wird gelüftet. Draußen dämmert es schon. Du bist klug genug, mir nicht hinterherzulaufen. Allein dafür liebe ich dich. Hinten im Saal legen sie Rausschmeißermusik auf, oder das, was sie für Rausschmeißermusik halten. Drums hämmern ein wildes Intro, Gitarren beginnen infernalisch zu kreischen. Trent Reznor schreit. Er schreit sich die Lunge aus dem Leib, während ich ins Freie trete. Ich muss dir gar nichts mehr sagen, denke ich. Die Musik tut das für mich. Don’t you fucking know what you are?

Feldsalat
    Das erste Gefühl, in das mich diese Gegend versetzt, ist Vertrautheit. Ich steuere den Saab über eine geschwungene Landstraße. Sie führt durch verwachsene Obstwiesen, ich sehe einen Bachlauf, eine Brücke, in einiger Entfernung ragt eine Felsnase aus den Hängen. An krummen Apfelbäumen hängen kleine Früchte. Sie werden bald reif sein.
    Viele meiner Vorfahren, heißt es, kommen von hier. Aber meine Großmutter ist die Einzige, die von diesen Vorfahren noch lebt. Das Städtchen, in dem sie wohnt, liegt nur noch wenige Kilometer vor mir. Jeden Sommer entfaltet es einen fast südlichen Charme, mit seinen Straßencafés, mit italienisch anmutenden Düften und Geräuschen. Draußen, auf seinen Terrassen, Treppchen und Brücken findet genauso viel vom Leben der Bewohner statt wie im Inneren der Häuser. Im Herbst schiebt sich zwischen die krummen Dächer ein taubenblau und bleiblau melierter Himmel, die Hügel werden regenverwaschen gelb, und die Bewohner drängen in ihre Häuser zurück, machen ihre Kachelöfen an.
    Mit meinem Bruder bin ich oft über die Treppchen und Brücken dieser Stadt gehuscht. Wir hatten Eistüten in der Hand oder Tischdecken über die Schultern geworfen. Helden brauchen Umhänge, meine Großmutter wusste das.
    Auch du kennst diese Gegend. Bei einem unserer ersten Treffen beschrieb ich sie dir. Wenig später unternahmen wir einen Tagestrip dorthin. Bei meiner Großmutter gab es Kartoffelsuppe, Feldsalat und selbstgebackenes Brot. Danach fuhren wir aufs Land hinaus und gingen querfeldein. Wir balancierten auf moosigen Baumstämmen, gingen barfuß durch Bäche und tranken daraus. Wir kauten auf Grashalmen, vergruben unsere Finger im Farn. Wir waren zwei Großstadtkinder im Wald, spielten Hänsel und Gretel, die

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