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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Jackentaschen voller Krümel. Sie passe zu mir, diese Landschaft, lieblich, sagtest du, dichtwüchsig. Fabulierprinz, sagte ich, spuckte meinen Grashalm aus und biss stattdessen ins Brot.
    Als ich ankomme, steht das Gartentor weit offen. Ich kann den Saab direkt auf der Wiese parken. Gehe ums Haus herum. Aus einem Küchenfenster kommt mir Apfelkuchenduft entgegen. Meine Großmutter tippelt auf der Hinterhofwiese hin und her, hängt Wäsche auf. Sie muss sich recken, um die oberste Leine der Trockenspinne zu erreichen. Sie winkt und lässt sich nicht stören.
    Ich lasse meine Tasche auf die Terrasse fallen und gehe hinüber, will mit der obersten Leine behilflich sein. Allerdings bin ich nicht viel größer als meine Großmutter. Wir lachen wie Schulmädchen. Nach einem Rundgang durch den Garten, Gemüsekontrolle, Beetbesichtigung, sitzen wir auf der Terrasse überm Tee.
    Während mein Blick über die Blumenbeete wandert und ich die neu gelernten Blumennamen zu memorieren versuche, macht sich eine seltene Leichtigkeit in mir breit. Es passiert mir selten, dass ich von allein ins Erzählen komme. Ich schildere meiner Großmutter mein Stadtleben, berichte von geplanten Auftritten und Wettbewerben, über den Eifer des Bassmanns, über unser neues Album, das hoffentlich bald erscheint.
    »Alles, was du tun kannst«, sagt meine Großmutter, »kannst du innerhalb eines menschlichen Lebens tun.«
    Sie hat dieses Talent, aus heiterem Himmel einen Satz fallenzulassen, auf den es keine Antwort gibt. Ich höre ihren Satz als Songzeile: Anything that can be done, can be done within one human life. Ich weiß nicht, warum sie nicht einfach sagte: Mach langsam, Kind. Oder was immer sie eben sagen wollte. Stattdessen diesen Satz, über den ich stundenlang nachgrübeln könnte. Ich krame nach einem Bleistift in meiner Tasche, um die Songzeile zu notieren.
    Ich verbringe den Großteil des Tages bei meiner Großmutter. Bewundere die Selbstverständlichkeit, mit der sie mich empfängt. Ich werde nicht ausgefragt, nicht als Sensation, nicht als Fremde behandelt. Ich bewege mich über die abgeschabten Orientteppiche, als wäre ich immer hier gewesen, helfe beim Orchideengießen. Nach dem Essen halte ich einen Nachmittagsschlaf auf einer Gartenliege.
    Auch der Abschied verläuft ohne viel Federlesens. Meine Großmutter packt mir einen Pappkarton ins Auto, drückt mir einen Kuss auf die Wange, und fertig. Manchmal frage ich mich, wo sie ihre Gelassenheit hernimmt.
    Wer wirklich sterben will, der tut es einfach. Auch so ein Songzeilensatz von meiner Großmutter. Als sei Sterben keine große Sache. Ob sie bedacht hat, dass nicht jeder Sterbende auch sterben will, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ihre Art, sich über das Krankheitsgefasel alter Leute lustig zu machen. Oder es soll ihren eigenen Lebenswillen betonen. Keine Ahnung. Dass sie nur aus Eitelkeit in Rätseln spricht, kann ich mir nicht vorstellen.
    Wolken ballen sich zusammen. Es dunkelt schnell. Die Scheinwerfer des Saab leuchten den Straßenrand nur dürftig aus.
    Wer sterben will, der tut es einfach. Unwillkürlich überlege ich, wie es wäre, auf hundertachtzig zu beschleunigen und den Saab gegen einen Brückenpfeiler zu setzen. Ich stelle mir vor, welches Geräusch es macht, wenn Blech sich faltet wie Papier. Ich weiß, dass sich die Augen vor dem Aufprall schließen, Lidschlussreflex. Ich stelle mir vor, wie sich meine Gedanken entladen, kurz bevor der Aufprall sie mir aus dem Kopf schlägt. Das muss ein neuronales Gleißen und Funkenstieben sein, die Zeit würde so langsam vergehen, denke ich, dass sie auseinanderbricht. Dass ich zwischen ihren Rissen durchschauen könnte. Die Weinflasche, die in dem Pappkarton auf der Rückbank liegt, würde an mir vorbei durch die Frontscheibe fliegen, ein gläsernes Geschoss, und am Brückenpfeiler zerplatzen.
    Ein Tier rennt ins Scheinwerferlicht. Die Bremsen jaulen. Ich schmettere die Hand auf die Hupe. Das Tier hastet auf die andere Straßenseite. Sein weißer Hintern verschwindet hüpfend in einer Wiese.
    Ich starre dem Irrlichthintern nach. Löse langsam die ins Lenkrad verkrallten Hände. Werfe immer wieder Blicke in den Rückspiegel, um eventuell anrasende Fahrzeuge nicht zu übersehen. Der Großmuttersatz spukt mir noch im Kopf, ich versuche, eine Melodie für ihn zu finden, als Melodie, denke ich, könnte er mir nichts anhaben. Mir fällt nichts ein. Wieder blicke ich in den Rückspiegel.
    Als ich losfahren will, betritt ein

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