Schulaufgaben
sprühte vor Ideen. Nur formen konnte er damit nichts.
Dann kam die große Welle G8. Bereits 2007 hatten fast alle Bundesländer beschlossen, die gymnasiale Ausbildung von neun auf acht Schuljahre zu verkürzen. Nur in Rheinland-Pfalz soll es ein Modellversuch bleiben, welcher zudem auf Ganztagsschulen beschränkt ist. Das liegt insofern nahe, da unverändert 265 Wochenstunden benötigt werden, um die Hochschulreife zu erlangen. Die Schülerinnen und Schüler haben also für den gleichen Stoff ein Jahr weniger Zeit. Deshalb wurden die Unterrichtsstunden pro Woche von durchschnittlich 30 auf 33 erhöht. Eingebettet in ein Ganztagsschulprogramm kann das funktionieren. Doch bei einem gestückelten Unterricht, der sich bis in den späten Nachmittag zieht? Thüringen und Sachsen hatten nach der Wiedervereinigung die gymnasiale Ausbildung erst gar nicht auf neun Jahre verlängert. Sie führten den Schulbetrieb daher weiter wie gehabt. Die anderen Bundesländer stellten unterschiedlich schnell um. In Hessen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein wird der Prozess erst 2016 abgeschlossen sein.
Alex besuchte die Schule in einem Bundesland, das zunächst sogenannte Schnellläuferklassen einführte und so Parallelstrukturen aufbaute. Nach einer Übergangszeit von nur zwei Jahren konnte man sich bis zum Abiturjahrgang 2011 entscheiden: »Schnellläufer« in acht oder »Fußgänger« in neun Jahren. Wobei nur die »Fußgänger« ins Ausland gingen, nur
sie hatten den zeitlichen und schulischen Spielraum dafür. Alex konnte nicht mehr wählen. Die Planungen stürzten ein. Ursprünglich sollte Alex 2011 ein Jahr im Ausland verbringen, anschließend die zwölfte und dreizehnte Klasse an seinem Gymnasium absolvieren. Sein Abitur stand für 2013 an. Jetzt sollte er es bereits 2012 ablegen, im Mai. Im Mai 2012 war Alex siebzehn Jahre alt. Volljährig wurde er erst drei Monate später.
Susanne und Michael beobachteten die Schulreform zunächst aus der Ferne. Wann, wie und ob Alex betroffen war, wussten sie lange nicht. Als es feststand, schlugen sie ihm ein Auslandsjahr in der zehnten statt in der elften Klasse vor. Doch so recht trauten sie es ihrem Ältesten noch nicht zu. Alex wollte auch nicht. Auf keinen Fall. Erst im nächsten Jahr. Als seine Vertraute in Sachen Bildung bat er mich um Rat. Drei Optionen kristallisierten sich heraus: Das Abitur 2012 machen, zusammen mit den anderen Schülern der Klasse, und erst danach ins Ausland gehen; das Abitur 2013 ablegen, sofort ins Ausland gehen und die zwölfte Klasse wiederholen; das Abitur 2012 machen, jetzt ins Ausland, dann zurück in die zwölfte Klasse und ohne Verschnaufpause das Abitur ablegen. Das bedeutete viel Arbeit.
Die Erwachsenen zerbrachen sich den Kopf. Doch Alex wusste, was er wollte: sein freies Jahr. In die Schule gehen, ohne dass die Noten zählen. Wenn seine Mitschüler ihn dann einen Sitzenbleiber nannten, war ihm das egal. Die Abstimmungen dauerten so lange, dass alle Anmeldetermine für Austauschprogramme längst verstrichen waren, als die Entscheidung endlich getroffen war. Susanne und Michael mussten nun selbst eine Schule im Ausland suchen. Ein befreundeter Arzt schwärmte von einer internationalen Schule im englischen Cambridge. Das sei nicht zu weit, Alex würde zumindest Englisch lernen. In dem einen Jahr würde er in vielen unterschiedlichen Fächern unterrichtet werden. Soziales Engagement sei ein Pflichtbestandteil des Schuljahres, damit
knüpft die Schule an reformpädagogische Erziehungsvorstellungen an. Das überzeugte die Eltern von Alex.
Michael rief dort an. »Ja, der Bewerbungsschluss ist noch nicht abgelaufen. Das stimmt schon«, erfuhr er. »Aber in diesem Jahr wird es besonders schwer. Zu viele Deutsche haben sich beworben, wir müssen quotieren. Die Schule lebt von ihrer Internationalität. Es muss Ihnen auch klar sein, es kommt nicht nur auf die Noten an.«
Alex sollte eine Bewerbung, ein Motivationsschreiben und das letzte Zeugnis schicken. Ob er diese erste Hürde wohl schaffte? Allzu schlecht war sein Zeugnis nicht, Durchschnitt 2,6, richtig gut ist allerdings etwas anderes. Doch es klappte. Alex wurde zu einem Gespräch nach Cambridge eingeladen. Susanne rief bei mir an, um mir diese Neuigkeit zu erzählen. Am Schluss fragte sie vorsichtig: »Michael bekommt nicht frei. Die anderen Kinder müssen in die Schule. Willst du mit?«
Also begleitete ich Susanne und Alexander nach England. Im Februar 2010 saßen wir im Bus von
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