Schulaufgaben
Heathrow nach Cambridge. Es regnete. Wir gingen einige Vorbereitungsfragen durch. Alex’ Englisch lief erstaunlich gut. Susanne und ich schauten uns verwundert an: Hatten wir ihn zuvor schon so gut sprechen hören?
Am nächsten Morgen stellte sich Alex vor. Die Schule lag etwas außerhalb, ein Fußweg von 20 Minuten. Anders als sonst kam kein Stöhnen über die Lippen von Alex. Wir erreichten die Schule etwas vor der Zeit, wurden in einen Warteraum gebeten und auf dunkelroten Plüschsofas platziert. Einfach, aber ehrwürdig und ziemlich Respekt einflößend. Pünktlich öffnete sich die Tür. Die Direktorin der Schule, Gwendolyn Thomsen, trat ein, zwei jüngere Männer an ihrer Seite: Jack Green und Steve Dayton. Wir waren von dem Auftritt beeindruckt. Gwendolyn konversierte höflich, fragte, warum ich dabei sei, und dankte für das Interesse an ihrer Schule. Sie reichte uns Unterlagen, die ausführlicher als die Dokumente
im Internet waren. Die könne man jetzt lesen, während Alex zu einem Gespräch erst mit Jack, dann mit Steve gebeten wurde. Das würde eine Stunde dauern. Anschließend würde sie sich beraten und uns ihre Entscheidung mitteilen. Fiele sie positiv aus, würde man uns die Schule zeigen und Susanne hätte drei Wochen Zeit, um sich ihrerseits zu entscheiden. So distinguiert man sich auf Anhieb, dachte ich leicht entsetzt.
Klare Ansage, klare Abläufe. Alle drei saßen wir etwas eingeschüchtert da. Auch das war sicherlich so bezweckt. Freundlich, doch zurückhaltend bat Jack mein Patenkind, ihm zu folgen. Gwendolyn und Steve verließen ebenfalls den Raum.
Susanne war sich sicher: »Das schafft er nicht.« Mehrmals wiederholte sie den Satz. Ich wusste nicht, ob das Alex zu wünschen war. Die Zeit zog sich. Wir vertieften uns in die Schulprospekte und erhielten eine Fülle an Informationen. Über die Werte der Schule, ihren Bildungsbegriff. Zu den curricularen Angeboten und dem Stellenwert von CAS. Die Abkürzung steht für »Creativity, Action, and Service«. Die Nähe zu den deutschen Reformpädagogen war offensichtlich. Kurt Hahn hatte schon 1959 ein Konzept für die Oberstufe entwickelt, nach welchem Schüler reale Situationen und Anforderungen aktiv gestalten und einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten sollten. 1
In den Prospekten fanden wir harte Statistiken. Die erreichte Notenverteilung am Ende der einzelnen Schulstufen, unterteilt nach Fächern. Die Erfolgsquote beim Übergang auf die nächste Stufe und beim Abitur. Die erzielten Werte im Scholastic Aptitude Test und bei anderen Kompetenztests, die für die Zulassung an Universitäten wichtig waren. Die Position der Schule im Vergleich aller Schulen im County und im ganzen Königreich. Das Abschneiden der Schule bei Fußball, Tennis, Rudern und Schach. Berichte über Exkursionen in den
Fächern Biologie und Geologie. Städtereisen während der kurzen half-term breaks , also der kleinen Ferien im Schuljahr.
Dann erschien Alex. »Das habe ich nicht geschafft.« Langsam kam er auf uns zu. Susanne nickte nur. Ich hakte nach: »Warum nicht?« »Ich konnte Jack und Steve gut verstehen, aber zum Sprechen ist mein Englisch zu schlecht. Ich konnte nicht sagen, was ich meinte.« Das hörte sich doch ganz gut an. »Was haben die denn gefragt? Musstest du Tests machen?« Mein Patensohn schüttelte den Kopf. »Die wollten nur wissen, auf was ich stolz in meinem Leben bin. Und auf was ich stolz sein möchte, wenn ich zehn Jahre älter bin.« Susanne schaute verwundert. »Und, hast du etwas gesagt?« Ich konnte es mir denken. Alex hatte letztes Jahr gute zwanzig Kilo abgenommen. Von heute auf morgen hatte er beschlossen, sich ein anderes Aussehen zuzulegen. Weg mit dem kurzen Meckischnitt, weg mit dem Bauch, weg mit den ewigen Hänseleien. Es kostete ihn jahrelangen Anlauf und viel Überwindung. Doch plötzlich schaffte er es. Er nickte mir zu. Klar, das hatte er gesagt. »Und die Zukunft?«, fragte ich neugierig. »Nun, das muss ich selbst herausfinden. Wenn ich Glück habe, helfen mir die Lehrer an dieser Schule.« He hit the mark. Mit dieser Antwort hatte er ins Schwarze getroffen.
Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür. Gwendolyn Thomsen kam herein, zusammen mit Jack und Steve, langsamer als beim ersten Mal. Sie ging auf Alexander zu, hielt kurz inne und reichte ihm die Hand. »Congratulations, good job.« Auch Jack und Steve gratulierten, begleitet von einem respektvollen Blick.
Was für mich das überzogene Getue einer Standesschule war,
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