Schulaufgaben
verebbte, Hoffnung und Mut schwanden. So verstrichen die ersten Lebensjahre von Jenny.
Laura und ihre Familie hatten die unruhigsten ersten drei Jahre. Rasch nach der Geburt befürchtete ihre Mutter, dass mit ihrer Tochter irgendetwas nicht stimmen könnte. Laura erschien ihr kraftloser als andere Kinder. Der Kinderarzt versuchte sie zu beruhigen und verwies darauf, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat. Doch bis zur nächsten Vorsorgeuntersuchung hatte sich Lauras Zustand nicht verbessert. Sie zeigte zu wenig Muskelspannung für ihr Alter. Der Kinderarzt überwies sie ans Sozialpädiatrische Zentrum. In dieser Kinderklinik arbeiten Ärzte und Therapeuten unterschiedlicher Disziplinen unter einem Dach zusammen. Sie kümmern sich um Kinder, die sich auffällig entwickeln. Die Ärzte untersuchten Laura, führten spezielle Tests durch. Schließlich stellte sich heraus, dass Laura eine zentrale Bewegungskoordinationsstörung hat, mittelschwer, therapierbar. Die Ärzte empfahlen verschiedene Therapieformen und setzten ihre ganze Maschinerie in Gang. Laura wurde nach dem Bobath-Konzept behandelt, erhielt Cranio-Sacral-Therapie, ihre Mutter recherchierte nächtelang im Internet und übte mit Laura stundenlang nach dem Vojta-Prinzip. In regelmäßigen Abständen begutachteten die Ärzte, ob sich bei Laura Fortschritte zeigen, denn das war keineswegs sicher. Mit ihnen wartete Lauras Mutter. Sie wartete auf kleine Erfolge, eine gewisse Entwicklung. Keiner konnte ihr sagen, wann diese einsetzen, ob sie überhaupt kommen würde. Diese Unsicherheit nagte an ihr. Mit ihrem Mann konnte sie darüber nicht sprechen. Er ging anders mit der Situation um, räumte der Krankheit seiner Tochter nicht so viel Raum ein, vertraute ganz stark seinem Kind.
So suchte die Mutter den Rat einer Therapeutin in dem Sozialpädiatrischen Zentrum. Etwa ein Jahr lang sprach sie
dort einmal in der Woche über ihre Ängste und ihre Trauer. Die Therapeutin half ihr, selbstbewusster mit der Krankheit von Laura umzugehen. Die unterschiedlichen Therapien und die Termine wurden ihr bald zu viel. Sie suchte eine andere Kinderärztin auf, zumal bei Laura zusätzlich eine sensorische Integrationsstörung diagnostiziert worden war. Die neue Kinderärztin war eher ganzheitlich orientiert und empfahl eine Einrichtung, die nach dem Pikler-Prinzip arbeitet. Pädagogen, Psychologen und Familientherapeuten unterstützen gemeinsam Eltern und Kinder. Dort fühlten sich Laura und ihre Mutter erst einmal gut aufgehoben.
Gut eineinhalb Jahrzehnte liegen diese frühen Lebensjahre der vier Kinder jetzt zurück. Damals mussten sich die Eltern schwierigen Entscheidungen stellen: Kann ich Erwerbstätigkeit mit Familie in Einklang bringen? Steht eine Infrastruktur zur Verfügung, die beiden Eltern oder Alleinerziehenden eine Erwerbstätigkeit und damit finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht? Das sind keine individuellen Fragen, so unterschiedlich die Situation jeder Familie im Einzelnen auch aussehen mag. Es sind Fragen an unser Gemeinwesen. Was wird gefördert, welche Anreize gibt es, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen? Wen begünstigt das Steuersystem, diejenigen, die ohnehin schon besser dastehen, oder jene, die wenig haben, auch wenig Spielraum für freie Entscheidungen? Es sind auch Fragen an das Bildungssystem. Wird Kindern, in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wird, außerhalb des Elternhauses nahe gelegt, die Sprache der neuen Heimat früh zu lernen? Werden Potenziale der Kinder erkannt und wird ihnen geholfen, Stärken zu nutzen und Schwächen zu überwinden oder zu kompensieren?
Zufriedenstellende Antworten und kluge politische Lösungen für diese Fragen an den Sozialstaat, an die Bildungsrepublik, an uns alle gab es Mitte der 1990er Jahre nicht. Die
Dringlichkeit dieser Probleme, die damals offenkundig wurden, hat seitdem noch zugenommen. Heute sehen wir den demografischen Wandel mit allen Konsequenzen. Der Wirtschaft dämmert, dass die ungenutzten Potenziale für den Arbeitsmarkt zwingend ausgeschöpft werden müssen. Heute weiß die Forschung, wie entscheidend die Förderung gerade der Kleinsten aus armen und zugewanderten Familien ist, damit sie früh den Anschluss an das Niveau der Kinder finden können, die in einer günstigeren Situation aufwachsen. Hat die Politik seit den ersten Jahren von Alex, Erkan, Jenny und Laura gehandelt, wird es Eltern und Kindern heute leichter gemacht?
In Maßen. Die Politik schlingert. Sie verwirrt und verirrt sich in
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