Schuldig wer vergisst
Hamilton nicht zu sehr auf die Palme bringt.«
»Verdammt«, murmelte Neville, als Evans auflegte.
Wen zum Teufel konnte er anrufen?
Mark Lombardi, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
Er und Mark waren gute Freunde. Trinkkumpane, eingefleischte Junggesellen. Er konnte Mark das nicht antun.
Nachdenklich betrachtete er sein Handy. Mark Lombardi. Vorzeigbar, sympathisch. Diskret. Genau, was Evans suchte, genau, was die Situation erforderte.
Die Nummer hatte er eingespeichert. Marks Handy – für den Fall, dass er ihn zu einem spontanen Treffen im Pub überreden wollte. Er musste sie nicht einmal nachschlagen oder auf dem Revier anrufen, um sie zu bekommen.
»Tut mir leid, Kumpel«, sagte er leise und drückte den Knopf. »Du oder ich.«
»Jedenfalls«, sagte Mark und füllte ihre Weingläser erneut auf, »die ganze Sache mit Joe hat mich ins Grübeln gebracht. Über alles Mögliche. Über die Familie zum Beispiel.«
»Ja?«
»Du musst nämlich verstehen, wie das mit meiner Familie ist …«, fuhr er in ernstem Ton fort. »Sie sind Italiener.«
Callie hätte beinahe laut gelacht, beherrschte sich aber. »Nun ja, das hatte ich mir fast gedacht.«
»Ich meine, eingefleischte Italiener. Oder auch Venezianer, genauer gesagt. Ich bin hier in London geboren, Serena auch. Aber i genitori , also meine Eltern, stammen beide aus Venedig, und ihre Eltern und Großeltern und so weiter und so fort. Sie leben jetzt schon seit über vierzig Jahre in London, aber sie sind keine Londoner. Werden sie auch nie sein. Sie werden immer Venezianer bleiben, die zufällig woanders wohnen.«
»Es gibt viele Leute in London, die von woanders kommen«, wandte sie ein, während sie noch nicht recht erkannte, was der Sinn der langen Erklärung war. »Die meisten von ihnen werden früher oder später Londoner.«
»Meine Eltern eben nicht«, erklärte er. »Nicht in tausend Jahren. Und sie verstehen auch nicht, wie ich mich fühle. Sie denken, ich wäre genauso italienisch wie sie.«
Jetzt war Callie wirklich verwirrt. »Aber … bist du das denn nicht?«
»Genetisch schon. Und kulturell in vielerlei Hinsicht auch. Sohn italienischer Eltern zu sein, hat mich so vielfältig geprägt, dass es mir wohl nur teilweise bewusst ist. Die Sprache, die Kirche …«
Ah, dachte Callie. Die Kirche. Ging es die ganze Zeit darum?
»Aber ich bin auch Londoner«, fuhr er fort. »Ich bin in einer multikulturellen Großstadt aufgewachsen. Einer englischen noch dazu. Ich esse fish and chips und trinke Ale. Wenn ich keinen italienischen Wein oder Peroni-Bier bekomme«, fügte er mit selbstironischem Grinsen hinzu.
Callie hob lächelnd ihr Glas, und er tat es ihr nach.
»Und was Beziehungen betrifft …« Mark verstummte und wandte den Blick von ihr ab, um ins Glas zu schauen.
Callies Lächeln erstarb.
»Mein ganzes Leben lang habe ich versucht zu tun, was meine Eltern von mir erwarteten. Was sie glücklich machen würde. Serena auch. Sicher, sie hat Joe geliebt, als sie ihn heiratete. Tut sie immer noch. Aber was wäre gewesen, wenn es ihr freigestanden hätte, sich in jemand anderen zu verlieben? Jemanden, der kein Italiener ist? Vielleicht wäre dann ihr Leben vollkommen anders verlaufen.«
»Vielleicht aber auch nicht«, fühlte sie sich bemüßigt zu sagen, »oder zumindest nicht unbedingt besser.«
»Aber sie hat nie auch nur geglaubt, eine Wahl zu haben. Und ich auch nicht. ›Ein nettes italienisches Mädchen‹ – all die Jahre haben meine Eltern darauf gewartet, dass ich eine nette Italienerin finde. Habe ich aber nicht. Und ich hab auch nie ein Mädchen gefunden, für das ich genug
empfunden hätte, um das Missfallen meiner Eltern zu riskieren.«
Callie schluckte. Schwer.
»Was ich sagen will«, fuhr Mark fort und sah nun endlich zu ihr auf, sodass sie die Tränen in seinen Augen sehen konnte. »Ich will damit sagen, dass es heute Abend genau darum geht. Ich möchte dich mit meiner Familie bekannt machen. Ich möchte, dass sie dich kennenlernen.«
»Marco …«
Sein Handy schrillte.
Mark stöhnte. »Nicht jetzt .«
Er zog es aus der Tasche und sah auf das Display. »Neville Stewart«, sagte er. »Da sollte ich besser rangehen.«
SECHZEHN
»Es ist gerade wirklich schlecht, Neville«, sagte Mark, nachdem Neville ihm eine kurze und bündige Erklärung der Situation geliefert hatte. »Ich bin gerade dabei … bei etwas sehr Wichtigem. Und ich habe für später einen Tisch reserviert.«
»Mein herzliches Beileid, Kumpel.«
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