Schuldig wer vergisst
Er klang allerdings nicht sehr mitfühlend. »Die Sache ist die: Der Kerl hat Beziehungen. Und Evans will kein Risiko eingehen. Es gibt Druck von oben. Kein Geringerer als der Vizepräsident.«
Mark unternahm einen zweiten Versuch. »Ich habe bereits eine halbe Flasche Wein getrunken. Selbst wenn ich einen Wagen dabeihätte, könnte ich nicht fahren.«
»Nimm die Jubilee Line. Geht bis nach St. John’s Wood. Du bist im West End? Du kannst an der Baker Street umsteigen. Ich bleibe hier, bis du kommst.«
Er konnte es nicht fassen. Da war er so weit gekommen …
Mark trennte das Telefonat mit einem wütenden Druck auf die Taste, dann sah er zu Callie auf: »Es tut mir so leid«, sagte er. »Ich hole dir ein Taxi.«
Callie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Ich denke, ich finde allein nach Hause, Marco.« Sie zog bereits ihren Mantel an und schnappte sich Tasche und Handschuhe.
»Neville sagt, es duldet keinen Aufschub«, wand er sich, um ihren Abschied noch etwas hinauszuzögern, damit der
Abend nicht auf diese Weise endete. Nichts gelöst, nicht einmal eine Reaktion von ihr auf das Bekenntnis, die Erklärung, auf die er nun schon seit Wochen hingearbeitet hatte.
»Das war dann wohl Neville Stewart, nehme ich an?« Es lag, so schien es Mark, ein gewisser scharfer Unterton in ihrer Stimme. Auch wenn sie darüber nicht sprachen, wusste er doch, dass sie für DI Stewart nicht viel übrig hatte, nachdem sie ihm nur einmal unter ziemlich widrigen Umständen begegnet war.
Mark nickte. »Es ist nicht Nevilles Entscheidung«, fügte er lahm hinzu. »Druck von weiter oben, hat er gesagt.«
»Nun denn, da kann man nichts machen.« Callie zuckte mit den Achseln und schien ihn zu bedauern. »Mein Beruf kann auch schon mal so sein«, sagte sie. »Nur dass mein Druck von noch weiter oben kommt.«
Gegen seinen Willen musste er lachen. »Ja, der Stellvertretende Polizeipräsident hält sich nur für den lieben Gott.«
Sie hatten die Straße erreicht, wo sie sich trennen mussten. »Macht es dir wirklich nichts aus, allein heimzufahren?«
»Kein Problem.«
»Ich rufe dich an und halte dich auf dem Laufenden«, sagte er.
»Pass auf dich auf, Marco.«
Als Alex endlich zu rennen aufhörte, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie war.
Nicht dass sie überhaupt etwas wiedererkannt hätte: London war für sie ein einziges großes Mysterium, eine verwirrende Monstrosität. In St. John’s Wood kannte sie sich noch aus, jedenfalls einigermaßen. Die Wohnung, ihre Schule und alles dazwischen. Aber nicht in diesen Straßen hier.
Sie hätte ebenso gut in einem fremden Land sein können. Kebabstände, indische Currybuden, aus denen ihr exotische Düfte entgegenquollen.
Wie weit war sie gerannt? Wie lange war sie gegangen? Alex hatte keine Ahnung. Sie sah auf die Uhr: Es war sechs durch.
Sie lief noch eine Weile. Es war die beste Möglichkeit, sich warm zu halten. Erst als sie zu rennen aufgehört hatte, als ihr das Herz nicht mehr im Halse pochte, sondern wieder normal schlug, hatte sie gemerkt, wie eisig es war. Wenn sie jetzt noch langsamer ging oder stehen blieb, würde ihr sehr kalt werden. Also lauf weiter!, trieb sie sich an.
Auf die belebten Geschäftsgegenden folgten ruhigere Wohnstraßen, die nicht weniger fremd auf sie wirkten. Dann kam sie erneut ins abendliche Getriebe. Diesmal schickere Läden. Etwas besser gekleidete Menschen, die mit vollen Tüten beladen von den Weihnachtseinkäufen kamen.
Und dort, an der Ecke, stand ein Polizist und regelte den Verkehr. Er trug eine von diesen gelben Leuchtstoffjacken über der Uniform, aber er war zweifellos Polizist.
Alex blieb stehen.
Callie beschloss, sich den Luxus eines Taxis nach Hause zu leisten. Natürlich hätte sie mit der U-Bahn fahren können, doch die Nachtschwärmer, die den Freitagabend unsicher machten, exotisch gekleidete junge Leute, die sich amüsieren wollten, waren schon unterwegs und die Waggons sicher unerträglich voll. Außerdem, rechtfertigte sie sich, wäre es ein kalter Spaziergang von Paddington nach Bayswater.
Erst als sie das Taxi bezahlt hatte, die Treppe zu ihrer Wohnung hochgegangen war und sich von Bella stürmisch begrüßen ließ, wurde ihr bewusst, dass sie nichts gegessen hatte. Mittags nichts, dann keinen Kuchen, kein Abendessen. Nichts weiter als ein paar Nüsse in dem Weinlokal. Und natürlich den Wein, der ihr aus dem leeren Magen ungehindert zu Kopfe gestiegen war, sodass sie sich mehr als nur beschwipst fühlte.
Solange
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