Schuldig wer vergisst
völlig offenließ, ob das in seinen Augen etwas Gutes oder etwas Schlechtes war.
»Du wirst ja selber sehen. Ich denke, es wird Zeit, dass du da reingehst.« Und Zeit, dass ich nach Hause komme, fügte er in Gedanken hinzu.
»Was genau soll ich eigentlich machen?«
»Oh, das Übliche«, sagte Neville achselzuckend. »Händchen halten, beruhigende Worte.«
Jetzt sah Mark eindeutig sauer aus. »Meinst du wirklich, mein Job beschränkt sich darauf?«
Mächtig ins Fettnäpfchen getreten, dachte Neville reuevoll. »Natürlich nicht, Kumpel«, versuchte er zurückzurudern. »Das ist nur eines deiner vielen Talente. Hier bei diesem Einsatz geht es jedenfalls genau darum. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass dieses Kind jeden Moment nach Hause kommt. Müde und frierend. Die Stiefmutter wird stinksauer auf sie sein, weil sie ihnen den Abend versaut hat«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich macht sie Hackfleisch
aus ihr, wenn ihr das nicht zu viel Arbeit ist. Der Papa ist wahrscheinlich erleichtert, auch wenn er es vermutlich nicht zeigt. Er wird ihr auch noch die Hölle heiß machen, sodass sie sich fragen wird, weshalb sie überhaupt zurückgekommen ist. Armes Kind.«
Mark schien nicht überzeugt. »Schaun wir mal.«
»Ruf mich morgen Früh an und sag mir, ob ich richtig lag.« Neville drückte die Wohnungstür auf. »Okay, Vorhang auf, Kumpel.« Er geleitete Mark ins Wohnzimmer. »Mr und Mrs Hamilton, darf ich Sie mit Detective Sergeant Mark Lombardi bekannt machen, einem unserer besten Familienkontaktbeamten? Er wird sich um Sie kümmern, bis Alex heimkommt.«
Es wäre so einfach gewesen, zu diesem Polizisten zu marschieren, ihm zu sagen, sie hätte sich verlaufen und wolle jetzt nach Hause. Er hätte einen Anruf gemacht, sie vermutlich in seinem Streifenwagen selber mitgenommen, und das wär’s dann. Nicht lange, und sie hätte sich mit Buster unter die Decke kuscheln können. Mit ein bisschen Glück wäre Dad noch nicht mal vom Büro zurück, und Jilly hätte nicht einmal gemerkt, dass sie nicht da war. Schlimmstenfalls wurde sie doch vermisst – Dad wäre ein bisschen besorgt, und Jilly würde sie anschnauzen, weil sie ihm Angst eingejagt hatte.
Alex war ganz nah daran, den Polizisten anzusprechen. Sie trat bis an den Bordstein heran und sah ihn an. »Können Sie mir helfen, nach Hause zu kommen?«, hatte sie schon auf den Lippen.
In diesem Moment dämmerte es ihr.
Nach Hause: Was für ein Witz!
St. John’s Wood war nicht ihr Zuhause. In keiner Hinsicht. Es war der Ort, an dem sie vorübergehend wohnte. Wo sie ihre Sachen hatte, aber es war nicht ihr Zuhause. Beim besten Willen nicht.
Zu Hause war sie in Schottland, und das würde auch so bleiben. Egal, was passierte.
Und Mum war in Schottland.
Alex kehrte dem Polizisten den Rücken zu und ging weiter.
Es gehörte nicht zu Marks Aufgaben, hinsichtlich Alex’ Verschwinden und Verbleib zu ermitteln, und das wusste er. Als Familienkontaktperson fiel ihm eine ganz andere Rolle zu: die Familie zu unterstützen und zu informieren. Auch wenn Nevilles abschätzige Bemerkung über das Händchenhalten und die beruhigenden Worte nicht gerade glücklich gewählt war, lief es zuweilen genau darauf hinaus. Das und Unmengen Tee. Mark war sehr gut im Teekochen.
»Kann ich Ihnen einen Tee bringen, Mrs Hamilton?«, erbot er sich.
»Tee?« Jilly Hamilton verdrehte die Augen. »Sie können mir noch einen Gin Tonic bringen, wenn Sie sich nützlich machen wollen.«
Angus Hamilton schlug Marks Angebot ebenfalls aus. Er lief auf und ab, auf und ab, während er rhythmisch die Fäuste ballte. »Ich habe einfach keinen Schimmer, wo das Mädel hin sein könnte«, murmelte er. »Ist ihr denn nicht klar, dass wir krank vor Sorge sind?«
Mark hatte nicht den Eindruck, dass Jilly Hamilton krank vor Sorge war: Sie schien einfach nur gelangweilt. Während ihr Ehemann das Zimmer abschritt, inspizierte sie ihre Fingernägel, erst jeden einzeln und dann als Ensemble. Sie waren in einem dunklen Korallenrot lackiert, jeder in sich und passend zu den anderen makellos geformt. Soweit Mark wusste, hatten sich weder seine Mutter noch Serena in ihrem ganzen Leben je eine Maniküre geleistet, doch er war in der Lage, eine teure, professionelle Nagelpflege zu erkennen, wenn er eine vor Augen hatte. Kein abgesplitterter Lack oder sonstiger Makel. Vollkommen. Dennoch unterzog Jilly das
Werk einer kritischen Prüfung, schob behutsam ihre Nagelhäutchen zurück und strich mit der
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