Schuldig wer vergisst
Fingerkuppe über den Lack, um ihn auf Unregelmäßigkeiten oder raue Stellen hin zu überprüfen.
»Gefällt Ihnen die Farbe?«, fragte sie Mark träge und streckte beide Hände aus, um sie von ihm begutachten zu lassen.
»Sehr schön.«
»Ein bisschen dunkler als sonst. Aber heute Früh dachte ich, wieso eigentlich nicht? Falls es mir nicht gefällt, kann ich ja morgen war anderes ausprobieren.« Sie hielt die Hände gegen das Rosa ihres Pullovers. »Ich weiß nicht. Vielleicht sind sie doch zu dunkel. Angus, Schätzchen, was meinst du?«
Angus Hamilton gab einen kehligen, genervten Laut von sich, sagte aber nichts. Sie versenkte sich erneut in die stumme Betrachtung ihrer Hände.
Hunger! Nicht nur ein bisschen – sie kam fast um vor Hunger.
Alex’ Mittagessen war unterbrochen worden, bevor es begann, und dasselbe galt für ihren Versuch, nach der Schule etwas zu sich zu nehmen. Jetzt knurrte ihr der Magen heftig, um sie daran zu erinnern, dass er gestopft werden wollte.
Sie hatte Geld in der Tasche, das war also kein Problem. Sie blieb stehen, schaute sich um und sah die goldenen Bögen von McDonald’s an der Ladenfront auf der anderen Straßenseite.
Im Unterschied zu den meisten Mädchen in ihrem Alter ging Alex nicht oft zu McDonald’s. Genauer gesagt war sie erst ein einziges Mal da gewesen, und das war schon ziemlich lange her. Ihre Mutter war mit ihr zu einem Einkaufsbummel nach Aberdeen gefahren, und sie hatten bei Mc-Donald’s Mittag gegessen. »Ich habe eine heimliche Schwäche für McDonald’s«, hatte ihre Mutter ihr gestanden. »Als
Studentin in Edinburgh hab ich mich hauptsächlich von Big Macs ernährt.«
Einen Big Mac würde sie sich jetzt auch gönnen. Schon der Name erinnerte sie an Schottland, und an ihre Mutter.
Sie drückte die Tür auf und trat in das hell erleuchtete, warme Restaurant. Es war gut besucht: Familien, kleine Teenager-Gruppen, eine wilde Kindergeburtstagsparty. Unsicher sah sie sich um, doch niemand schien auf sie zu achten.
Alex stellte sich an, um zu bestellen, und las unterdessen die Liste mit den Angeboten. Bis sie an der Reihe war, hatte sie sich entschieden. »Ein Big-Mac-Menü«, erklärte sie mit fester Stimme.
»Und was zu trinken?«, fragte der gelangweilte, pickelübersäte Jugendliche an der Kasse.
Ihre Mutter hatte ihr normalerweise keine Cola gegeben, aber als sie zu McDonald’s gingen, hatte sie ihr zur Feier des Tages eine zu ihrem Happy Meal spendiert. »Cola«, sagte sie.
Der Junge nahm ihre Zehn-Pfund-Note und gab ihr eine Handvoll Wechselgeld zurück. Alex steckte die Münzen in die Hosentasche und bekam wenige Sekunden später ihr Tablett in die Hand gedrückt.
»Wo soll ich mich hinsetzen?«, fragte sie den Jungen.
Der sah sie erstaunt an. »Wo du willst.«
Alex trug das Tablett zu dem Tisch am Fenster. So konnte sie die Leute draußen beobachten, die mit ihren Einkäufen vorbeihasteten, oder den anderen Gästen im Restaurant zusehen.
Sie stopfte sich ein paar Pommes in den Mund, schlürfte etwas von ihrer Cola und wandte sich dann der Hauptattraktion zu. Alex öffnete den gelben Faltkarton, hob den Big Mac heraus, riss den Mund weit auf und biss hinein. Es war himmlisch: Noch nie im Leben hatte ihr etwas so köstlich geschmeckt. Hellrote Soße tropfte ihr auf den Mantel.
Alex rieb mit der Papierserviette an dem Fleck. Und in diesem Moment, als sie die Beule in ihrer Manteltasche sah, fielen ihr die Briefe wieder ein.
Neville öffnete die Tür zu seiner Wohnung und zog angeekelt die Nase kraus. Ihm schlug ein Geruch nach Whiskey und Elend entgegen.
Die Zentralheizung lief über Zeitschaltung und war so eingestellt, dass sie bereits vor Stunden angelaufen war, weil er mit einer früheren Heimkehr gerechnet hatte. Also war die Wohnung auch noch stickig überheizt. Neville hatte gedacht, es müsse angenehm sein, aus der Kälte in die Wärme zu kommen, doch es war nur Mief. Er öffnete ein Fenster und sog einen erfrischenden Schwall eisige Luft ein. »Schon besser«, murmelte er.
Das Telefon. Bestimmt hatte sie eine Nachricht hinterlassen.
Keine Nachricht.
Und in der Whiskeyflasche waren nur noch ein paar Tropfen.
Na ja, er hatte noch sein Guinness. Sechs Dosen und den Pub um die Ecke für den Notfall. Wenn er in geselligerer Stimmung gewesen wäre, hätte er den kurzen Weg nicht gescheut, um das echte Zeug zu bekommen, frisch gezapft, doch im Moment war die Gesellschaft anderer Menschen das Letzte, was er brauchen konnte.
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