Schuldig wer vergisst
Sie und mich, Sid. Sie ist nicht nur eine verheiratete Frau, sondern spielt auch in einer ganz anderen Liga. Vergessen Sie das keine Sekunde lang!«
Sid Cowley schaffte es tatsächlich binnen Sekunden nach ihrem Eintreffen, Jilly Hamilton auf dem falschen Fuß zu erwischen. »Was dagegen, wenn ich rauche?«, fragte er ganz allgemein in die Runde und zog sein Zigarettenpäckchen heraus.
»Und ob ich etwas dagegen habe«, konterte Jilly Hamilton in scharfem Ton. »Das hier ist ein Nichtraucherhaushalt. Wenn man es erst mal in den Gardinen hat, kriegt man es nie mehr raus. Das sollten Sie eigentlich wissen … Sergeant, oder?« Sie funkelte ihn an, bis das Päckchen wieder in der Tasche verschwand.
So viel Emotion hatte Neville bis dahin bei ihr noch nicht gesehen. Schau mal an, dachte er, es gibt ja doch etwas, das Jilly Hamilton nicht gleichgültig ist: ihre Gardinen zum Beispiel.
In den Stunden, die Neville zu Hause verbracht hatte, war Jillys Benehmen von Gleichgültigkeit zu Langeweile und nunmehr zu Schmollen übergegangen. Offensichtlich ging es ihr gegen den Strich, nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Während Neville sich mit Angus Hamilton darüber beriet, welche Schritte sie auf der Suche nach Alex als Nächstes unternehmen und was sie veranlassen würden, schlug Jilly immer wieder die Beine übereinander, stand auf und lief im
Zimmer herum, sah demonstrativ auf ihre zarte Rolex und verkündete schließlich: »Ich gehe ins Bett. Es gibt keinen Grund für mich, aufzubleiben, oder?«
Angus brach mitten im Satz ab und sah sie finster an. »Meinst du wirklich, du kannst schlafen?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn sie nach Hause kommt, dann kommt sie nach Hause. Wenn nicht … na ja, so oder so kann ich wenig tun, oder?«
Am Samstagvormittag war die Polizei auf der Suche nach dem vermissten Mädchen wirklich mobilisiert. Auch wenn es offensichtlich zu spät war, um noch etwas in die Morgenausgabe zu bekommen, war ihr Foto an sämtliche Blätter weitergegeben worden, und der Vizepräsident der Londoner Polizei hatte höchstpersönlich eine Pressekonferenz einberufen. Bis Samstagmittag war es zumindest in London der Aufmacher, und die Bevölkerung wurde aufgefordert, sich unverzüglich unter einer eigens eingerichteten Hotline-Nummer bei der Metropolitan Police zu melden, falls jemand ein Mädchen gesehen hatte, auf das die Beschreibung von Alex Hamilton passte.
Auch wenn die Wohnung der Hamiltons an sich nicht als Tatort galt, waren die Leute von der Spurensicherung da gewesen, um DNA-Proben zu nehmen und Alex’ Computer abzuholen. Danny Duffy hatten sie zwangsrekrutiert: Er war zusammen mit seiner Freundin mit dem Motorrad auf der Autobahn zu Weihnachtseinkäufen im Bluewater unterwegs und musste unverrichteter Dinge zurückkehren. Bald schon wusste jeder auf dem Revier, dass die Freundin das gar nicht komisch fand.
Als Alex am Samstagmorgen eingezwängt und frierend erwachte, brauchte sie eine Weile, bis sie sich erinnerte, wo sie war.
Die Suche nach ihrer Granny war gescheitert. Zwar hatte sie Bayswater gefunden, doch es war größer als erwartet und ging auf der einen Seite in Paddington, auf der anderen in Notting Hill über. Eben kein Dorf wie Gartenbridge, sondern ein Teil von London. Im Dunkeln wirkte alles fremd. Nirgends erkannte sie Grannys Wohnblock oder auch nur irgendeins der markanten Gebäude wieder.
So spät am Abend war es sogar schwierig gewesen, überhaupt jemanden zu finden, den sie nach Granny fragen konnte. Die Straßen der Wohngegenden waren praktisch menschenleer. Schließlich hatte sie einen Tante-Emma-Laden gefunden, der rund um die Uhr geöffnet hatte, und den dunkelhäutigen Mann hinter der Theke gefragt, ob er vielleicht Mrs Morag Hamilton kannte. Er starrte sie an, als käme sie vom Mars, und schüttelte den Kopf, während er die Hände in einer hilflosen Geste ausbreitete. Entweder verstand er ihren schottischen Akzent nicht oder er sprach kein Englisch.
Also war sie weiter umhergeirrt, bis sie nur noch fror und müde war. Inzwischen wollte sie nichts weiter, als ein warmes Plätzchen zum Schlafen zu finden.
Irgendwann hatte sie ihre Chance gesehen und nicht gezögert, sie beim Schopf zu packen. Ein Wagen fuhr in eine Parklücke am Bürgersteig, und eine Frau stieg aus. Sie zückte einen Schlüssel und ging auf einen Wohnblock zu. Alex rannte hinüber und schlüpfte hinter ihr in einen zugigen Flur. Die Frau nickte ihr gleichgültig zu und
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