Schuldig wer vergisst
Bissen.
Er konnte es nicht länger hinauszögern. Während Evans seinen Kaffee schlürfte, ergriff er die Flucht nach vorn. »Der Computer des Mädchens, Sir. Es war eine E-Mail darauf. Von jemandem namens Jack. Er hat sich mit ihr für gestern Abend an der Paddington Station verabredet.«
»Gütiger Gott.« Evans verschluckte sich an seinem Kaffee, sodass ihm ein kleines Rinnsal aus dem Mundwinkel lief, fasste sich aber sofort wieder. »Und was wissen wir über diesen Jack?«
»Sie hat ihn als ihren Freund beschrieben. Gegenüber ihren Stiefkusinen. Aber ich glaube, sie haben sich bis dahin noch gar nicht gesehen. Er hat ihr aufgetragen, etwas Rotes anzuziehen, also nehme ich an, es war ihr erstes Treffen.«
»Verfluchter Mist.«
»Natürlich könnte es theoretisch ganz harmlos sein. Andererseits …«
Evans sprach Nevilles Gedanken aus. »Aber er könnte auch ein kranker Pädophiler sein. Das meinen Sie doch, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
So, jetzt war es raus. Es war auf dem Tisch. Die schlimmste Möglichkeit.
»Die Computer-Jungs …«
»Die sitzen dran«, versicherte Neville. »Sie drucken sämtliche E-Mails für mich aus. Außerdem versuchen sie, ihn elektronisch zurückzuverfolgen. Ich verstehe zwar nichts davon,
aber Danny sagt, das sei möglich. Er ist sich ziemlich sicher, dass sie ihn finden werden.«
»Gut.« Evans hatte seine Tasse abgestellt und nahm das Telefon zur Hand. »Ich rufe den Vize an. Er muss das auf der Stelle wissen. Gehen Sie zum Computer-Labor zurück und lesen Sie diese E-Mails. Alle. Sie können mir eine kurze Zusammenfassung machen. Fordern Sie für den fraglichen Zeitraum das Filmmaterial sämtlicher Überwachungskameras rund um Paddington an und überprüfen Sie, ob da was drauf ist. Außerdem könnten Sie mal nachhören, ob irgendwelche brauchbaren Hinweise per Telefon eingegangen sind, seit es in den Nachrichten gebracht wurde. Wahrscheinlich nicht, aber man weiß ja nie.«
Neville zögerte. »Sir, wegen Alex’ Vater …«
Evans warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. »Ich rufe ihn selber an«, sagte er und winkte Neville aus dem Büro.
Wie ein Verurteilter, der im letzten Moment vom Galgen gerettet worden war, machte sich Neville erneut auf den Weg zum Computer-Labor und musste unwillkürlich grinsen.
»Sie wird seit gestern Nachmittag vermisst«, sagte Morag, und in ihre Panik mischte sich Bitterkeit. »Niemand hat es für nötig gehalten, mich zu informieren.«
Nach allem, was sie von Morag über ihren Sohn und dessen Frau gehört hatte, war Callie nicht überrascht.
»Ich musste es von einem Polizisten erfahren. Angus hat mich immer noch nicht angerufen.«
Callie sah, dass Morag schwer getroffen war, wenn nicht sogar unter Schock stand. Sie hatte Callie weder den Mantel abgenommen noch ihr einen Tee angeboten. »Soll ich uns einen Tee machen?«, schlug Callie vor. Morag konnte auf jeden Fall einen brauchen: die beste Medizin gegen Schock.
»Ja, gerne.«
Sie ließ Bella bei Morag im Wohnzimmer; als sie mit dem Tee zurückkam, lag der Hund auf dem Sofa und Morag streichelte ihn, als gäbe ihr das ein wenig Trost. »Ich vermisse meinen Macduff«, sagte Morag.
Callie verstand, was in dieser harmlosen Bemerkung noch alles mitschwang. Macduff, Morags Cairn-Terrier, stand für einen ganzen Lebensabschnitt, der für immer verloren schien: ein Heim, einen Ehemann, eine Familie. Gemeinschaft. Alles vorbei und stattdessen ein einsames Dasein im unerbittlich anonymen London.
»Soll ich Ihren Sohn vielleicht anrufen?«, erbot sie sich, während sie den Tee einschenkte.
»Nein, das würde nichts bringen.« Morag beugte das Gesicht über Bellas schwarz-weißen Kopf.
»Hat dieser Polizist gesagt, wieso sie weggelaufen ist? Wissen die irgendwas? Wollte sie einfach nur von zu Hause weg?«
»Jilly.« Diesmal gab sie sich keine Mühe, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Sie hatte einen Streit mit Jilly, hat er gesagt. Diese Frau ist … sie ist ein Monster. Ein selbstsüchtiges Monster. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, mit ihr zurechtzukommen – Angus zuliebe und Alex zuliebe. Aber der Tag, an dem sie auf dieser Dinnerparty auftauchte, war der schlimmste in unser aller Leben, das ist nun mal die Wahrheit.«
Callie war geneigt, ihr zuzustimmen, wusste aber nicht, welchen Nutzen es haben sollte, es auszusprechen.
»Die Fahrkarten, bitte!«, rief ein Mann in Uniform, der aus dem Waggon vor ihnen kam und einen Kartenlocher schwang. »Alle
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