Schuldig wer vergisst
Dieses Mädchen musste Morags Enkeltochter sein.
Sie ließ Morag eine Weile mit Bella allein und schlich in die Küche zurück, um auf ihrem Handy Marco anzurufen.
»Kannst du reden?«, fragte sie, als er sich meldete.
»Na ja, ist kein so guter Zeitpunkt. Hast du meine Nachricht bekommen? Ich arbeite bei einem schwierigen Fall mit. Würde es dir was ausmachen, heute Abend zu reden?«
»Deshalb rufe ich ja an«, erklärte sie hastig. »Dein Fall. Das Mädchen, das vermisst wird. Alex Hamilton, nicht wahr?«
»Richtig. Dann hast du es schon in den Nachrichten gesehen?«
Die Nachrichten: Daran hatte sie nicht einmal gedacht. Sie würde sie einschalten müssen, um zu sehen, was sie darüber brachten, auch wenn das Morag noch mehr aufregen könnte. »Nein. Ich bin hier bei ihrer Großmutter. Sie ist ein Mitglied meiner Gemeinde. Ich habe sie erst vor Kurzem kennengelernt. Sie ist noch nicht lange in London.«
»Die Großmutter!«
»Ich wollte dich nur fragen, ob du mir irgendetwas sagen könntest, das ich ihr weitergeben kann. Irgendetwas, das ihr hilft. Sie hat erst durch die Polizei davon erfahren, Marco«, fügte sie hinzu und merkte, dass ihre Stimme vor Empörung zitterte. »Ihr Sohn hat es nicht mal für nötig gehalten, sie anzurufen, und sie sagt, es würde nichts bringen, wenn sie sich umgekehrt bei ihm meldete.«
»Wahrscheinlich hat sie recht«, bestätigte Marco leise. »Er würde sie nicht hier haben wollen.«
»Also, kannst du mir irgendwas sagen? Über den Stand der Dinge?«
Er senkte die Stimme noch ein bisschen. »Hör zu, cara mia , gib mir ein paar Minuten, und ich rufe dich zurück.«
Callie schloss daraus, dass er nicht offen sprechen konnte. Sie beschäftigte sich irgendwie, indem sie in der Küche aufräumte und für die unvermeidliche nächste Runde Tee die Becher abwusch und die Kanne ausspülte.
Als er wie versprochen zurückrief, sprach er in normalerem Ton, wenngleich seine Stimme auch ein wenig hallte. »Ich bin im Klo«, erklärte er. »Um ungestört zu sein.«
Er bestätigte ihr, was Morag bereits wusste: Nach einem Krach mit ihrer Stiefmutter hatte Alex irgendwann im Lauf des Nachmittags die Wohnung verlassen.
»Ihre Stiefmutter klingt nach einem Albtraum«, sagte Callie. »Oder hat Morag ihr gegenüber nur Vorurteile? Ist Jilly wirklich so schlimm, wie Morag sagt?«
»Wohl eher noch schlimmer. Ich denke, sie ist der selbstsüchtigste Mensch, der mir je untergekommen ist. Und furchtbar oberflächlich. Gott sei Dank ist sie jetzt weg«, fügte er hinzu.
»Weg?«
»Oh, nicht für immer.« Marco stieß ein trockenes Lachen aus. »Jilly ertrug es nur offensichtlich nicht länger, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Heute Morgen hat sie eine Tasche gepackt und verkündet, sie gehe zu ihren Eltern, bis das alles vorbei sei. Ich war bestimmt nicht böse, sie ziehen zu sehen.«
»Und was ist mit ihm ?«, fragte Callie. »Angus? Was macht er auf dich für einen Eindruck?«
»Zuerst mochte ich ihn überhaupt nicht«, räumte Marco ein. »Sicher, er steht unter kolossalem Stress, aber ich komme grundsätzlich nicht gut mit Menschen aus, die immer bestimmen wollen. Und er hat mich mächtig von oben herab behandelt.«
Callie war seinetwegen empört. »Aber du bist doch da, um ihm zu helfen.«
»Aber nicht ganz genau so, wie er sich das vorgestellt hat. Ich konnte nicht einfach einen Zauberstab schwingen und
seine Tochter wieder nach Hause holen. Allerdings muss ich sagen, dass er mich sehr viel respektvoller behandelt, seit ich das Passwort seiner Tochter rausbekommen habe.« Er lachte leise.
»Jetzt kann ich dir nicht ganz folgen. Passwort?«
»Ist eine lange Geschichte, cara mia, ich erzähle dir das alles bei nächster Gelegenheit in Ruhe.«
»Dann sehen wir uns heute Abend nicht?«, fragte Callie und war selbst erstaunt, wie sehr sie die Aussicht enttäuschte.
»Möglicherweise nicht. Kommt ganz drauf an, was heute Nachmittag noch alles passiert.«
»Ich nehme mal an, Alex könnte jeden Moment bei euch zur Tür hereinspazieren? Oder irgendwo wohlbehalten aufgefunden werden?« Das allerdings, dachte Callie, war eher unwahrscheinlich: Je länger das Mädchen weg war, desto geringer die Chancen auf ein schnelles glückliches Ende. Das war, wie sie sehr wohl wusste, die unausgesprochene Angst, die Morag lähmte. Alex war die ganze Nacht über weg gewesen und nicht nur für ein, zwei Stunden. Wie ließ sich das wegdiskutieren?
»Was soll ich dann also Morag sagen?«, fragte
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