Schuldig wer vergisst
Stirn. »Letzte Woche mochtest du Gurke noch, Henry.«
»Aber jetzt hasse ich sie. Gurken sind schleimig und schmecken scheußlich.«
»Dann nimm sie eben runter«, schlug die Mutter vor und wandte sich einem ihrer anderen Kinder zu, demjenigen, das direkt vor Alex saß, sodass sie es nur in der Spiegelung der Scheibe sehen konnte.
Henry riss seine Tüte Snacks auf – eine grüne Tüte mit Salz- und Essig-Chips, wie Alex neidisch feststellte – und kaute laut und genüsslich. »Mmm«, sagte er. »Salz und Essig. Lecker.«
»Abartig«, sagte eins der älteren Geschwister auf der anderen Sitzreihe. »Da schrumpeln einem ja die Lippen.«
Alex zog ihr Geld heraus und legte es auf der Ablage aus, die am Rücksitz vor ihr befestigt war. Achtunddreißig Pfund und einundachtzig Pence. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, konnte sie ein bisschen davon opfern und es für eine Tüte Chips ausgeben, falls sie den Getränkewagen am Ende des Zugs noch einholte …
Während seine Mutter gerade anderweitig beschäftigt war, beugte sich Henry um die Rückenlehne, sodass sich ihre Blicke trafen und er das Geld auf dem Tablett sah. Dann streckte er den Arm durch den Spalt und warf sein ganzes Sandwich-Päckchen auf den Sitz neben ihr. Blitzschnell drehte er sich wieder um, bevor seine Mutter seinen Handstreich bemerkte.
Alex starrte das Päckchen lange an, bevor sie wagte, es anzufassen. Essen! Zwar waren Thunfisch und Gurke auch nicht gerade ihre Lieblingskombination, doch das hier war ein Geschenk, das man nicht verschmähen, sondern dankbar annehmen sollte.
Henrys Mutter konnte jeden Moment das mysteriöse Verschwinden der Sandwiches bemerken und beschließen, der Sache nachzugehen. Hastig wickelte Alex die Folie ab und verschlang das Brot gierig mit großen Bissen. Als sie fertig war und die zu einer kleinen Kugel zusammengedrückte Frischhaltefolie in ihre Tasche gesteckt hatte, um jedes Indiz zu beseitigen, drehte sich Henry noch einmal kurz zu ihr um und gönnte ihr ein verschwörerisches Augenzwinkern.
Während Danny mit seiner mysteriösen Arbeit fortfuhr, die für Neville ungefähr so verständlich war wie Gehirnchirurgie oder Atomphysik, stellte sich Neville tapfer der Herausforderung. Er wusste, dass er sich nicht den Luxus leisten konnte abzuwarten, alles in Ruhe zu überdenken und zu gegebener
Zeit Konsequenzen daraus zu ziehen. Nein, Alex war immer noch nicht aufgetaucht, und was sie eben herausgefunden hatten, war so ziemlich das Einzige, was sie an Informationen besaßen. Der Vizepräsident musste umgehend unterrichtet werden; er würde dann entscheiden, wie viel davon an die Presse weitergegeben werden sollte. Die Presse: ihre größten Freunde und größten Feinde. Ein zweischneidiges Schwert.
Er wählte Evans’ Nummer und war erstaunt, von der süßen Denise zu erfahren, ihr Mann sei nicht da; wie es aussah, sei er zur Dienststelle gefahren.
Also ging Neville nach oben und fand die Tür offen.
»Kommen Sie rein, Stewart«, rief Evans, das Telefon in der Hand. »Bin gerade angekommen und dabei, einen Kaffee zu organisieren. Wollen Sie auch einen?«
Neville hatte den ganzen Morgen nichts anderes getrunken, auf eine Tasse mehr oder weniger kam es da auch nicht mehr an. »Ja, Sir, gerne.«
Evans wies einen Untergebenen an, sich um die Getränke zu kümmern, dann legte er auf. »Haben Sie mich gesucht, Stewart?«
»Ich hatte heute eigentlich nicht mit Ihnen gerechnet«, sagte Neville. »Wegen der Familienfeier und dem Ganzen.«
Evans lachte leise. »Um die Wahrheit zu sagen, Stewart, sind mir die angeheirateten Verwandten ein bisschen auf den Geist gegangen«, vertraute er ihm an. »Sie waren nie verheiratet, oder, Stewart?«
»Nein, Sir, ich hatte noch nicht das … Vergnügen.«
»Na ja, sonst wüssten Sie, was ich meine. Glauben Sie mir. In kleinen Dosen, meinetwegen, aber manchmal wird es einfach zu viel. Denises – Mrs Evans’ – Vater. Was für ein Klugscheißer! Und ihre Mutter redet wie ein Wasserfall!«
Evans musste am Vorabend ein paar sehr gute Flaschen Wein kredenzt und selbst genossen haben, dachte Neville.
Noch nie hatte er ihn so mitteilsam erlebt oder auch so milde gestimmt. Möge es eine Weile so bleiben, dachte er inbrünstig.
Der Kaffee traf wenig später ein: zwei Tassen mit richtigen Untertassen nebst einem großen Teller Sandwiches. »Langen Sie zu«, ermunterte ihn Evans, und so nahm sich Neville ein Dreieck mit Schinken und Pickles und verdrückte es mit wenigen
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