Schuldig wer vergisst
stimmt’s?«
»Was soll das?«, stellte sie sich, ebenfalls im Flüsterton, dumm.
»Ich hab dich gesehen. Du bist mit uns in den Zug gestiegen. Und als der Schaffner durchkam, bist du aufs Klo gegangen. Du hast gedacht, niemand sieht dich. Aber ich hab dich gesehen. Du hast keine Fahrkarte.«
»Und?«
»Keine Sorge«, sagte Henry mit übertriebenem Augenzwinkern. »Ich verrat’s keinem.«
Alex ließ einen tiefen Seufzer heraus und merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.
»Wenn du mir zwanzig Pfund gibst.«
»Was?«, zischte sie.
»Zwanzig Pfund. Du hast mehr. Ich hab’s gesehen.«
»Aber das ist … das ist Erpressung!«
»Von mir aus.« Er zuckte die Achseln. »Liegt ganz bei dir. Gib mir zwanzig Pfund oder ich sag’s meiner Mum. Dann suche ich den Schaffner und sag’s ihm auch. Die stecken dich ins Gefängnis. Ist dir das lieber?«
Alex hätte ihn erwürgen können. Stattdessen griff sie sich in die Tasche, löste zwanzig Pfund aus ihrem ohnehin ausgedünnten Bündel Scheine und knallte sie auf das kleine Tablett.
Henry schnappte sie sich. »Danke«, sagte er. »Du wirst es nicht bereuen. Ich werd … dich nicht verpetzen.« Dann war er weg.
Aus was für einem dämlichen Fernsehprogramm hatte er sich das wohl abgeguckt?, fragte sich Alex. In der Fensterspiegelung sah sie, wie ihr zwei dicke Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Wütend wischte sie sie mit dem Handrücken fort. Sie hatte bisher nicht geweint und würde auch jetzt nicht damit anfangen. Weinen brachte doch nichts.
Neville holte sich den Stapel E-Mail-Ausdrucke aus dem Computer-Labor und kehrte damit an seinen Schreibtisch zurück. Bevor er sich an die Lektüre machte, befolgte er Evans’ Rat und fragte bei der Hotline nach. Vermutlich war noch nicht viel eingegangen; Alex’ Foto würde erst in den Mittagsnachrichten erscheinen, aber erst, wenn es auch in den Zeitungen abgebildet war, konnten sie mit vielen Rückmeldungen rechnen.
»Wir hatten ein paar Anrufe«, erfuhr er. »Natürlich die üblichen Spinner. Die hängen sich immer als Erste an die Strippe. Ein Kerl schwört, er hätte sie gestern so kurz nach vier Uhr nachmittags in’nem Imbiss in Kilburn gesehen. Ich bin eher geneigt, dem alten Mann in St. John’s Wood zu glauben, der behauptet, er hätte sie ungefähr um die gleiche Zeit in der St. John’s Wood High Street gesehen. Er sagt, sie hätte nicht aufgepasst, wo sie hintritt, und wäre auf dem Eis ausgerutscht und hingefallen. Er hätte ihr aufgeholfen und sie ermahnt, vorsichtiger zu sein.«
»Das würde passen«, bestätigte Neville, auch wenn es ihnen nicht wirklich weiterhalf.
»Die interessanteste Information kommt von einer Frau, die gestern Abend um Viertel nach fünf durch Paddington Station kam und es eilig hatte, ihren Zug zu erwischen.«
»Ach ja?« Neville richtete sich unwillkürlich in seinem Stuhl auf; die Sache mit Paddington hatten sie noch nicht an die Öffentlichkeit gegeben, also war es ziemlich wahrscheinlich, dass diese Meldung stimmte.
»Sie sagt, das Mädchen, das wie Alex ausgesehen habe, sei an ihr vorbeigerannt und habe sie zur Seite gedrängt. Sie hat sich die Kleine genauer angesehen, weil sie sich über die schlechten Manieren des Kindes geärgert hat – das Mädchen ist keine Sekunde stehen geblieben, um sich zu entschuldigen, als sie den Koffer der Frau umstieß. Unsere Anruferin hat ihren Zug um wenige Sekunden verpasst und gibt ihr die Schuld daran.«
»Das Mädchen ist gerannt?«, wiederholte Neville und schluckte, um einen dicken Kloß loszuwerden, den er in der Kehle spürte.
»Ja, und jemand ist ihr hinterhergerannt und hat ›Sasha‹ gerufen. Ein Mann in mittleren Jahren, übergewichtig mit beginnender Glatze. Er ist auch nicht stehen geblieben.«
»Hat sie gesagt, ob dieser Mann das Mädchen eingeholt hat?«
»Die Frau hat das nicht weiter verfolgt. Schließlich wollte sie ihren Zug noch kriegen.«
Neville legte den Hörer auf und stützte den Kopf in beide Hände. »O Gott«, stöhnte er. »Gütiger Himmel.«
Wenigstens, sagte er sich, war sie so schlau, wegzurennen. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, hatte sie es ja geschafft.
Außerdem sollten sie noch CCTV-Filmmaterial von Paddington bekommen, das ihnen hoffentlich half, die Frage zu klären. Er nahm erneut das Telefon zur Hand, um einen Beamten danach zu schicken.
An irgendeinem Punkt fiel bei Callie der Groschen: »Ein Mädchen wird vermisst«, hatte Marco ihr aufs Handy gesprochen.
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