Schuldig wer vergisst
italienischen Frauen, so hatte Serena die Gene irgendeines obskuren venezianischen Vorfahren geerbt: Sie war groß und schön, mit einer wunderbaren rotgoldenen Mähne. (Angesichts der Tatsache, dass auch ihr Vater dunkelhaarig und mittelgroß war, hatte es von Anfang an die Witze über den Milchmann oder il postino gegeben.) Und während Grazia Lombardi äußerst reizbar war, machte Serena, »die Heitere«, ihrem Namen alle Ehre. Ob sie so getauft wurde, weil sie bereits als Baby eine fröhliche, ausgeglichene Natur an den Tag gelegt hatte, ließ sich nicht mehr eindeutig klären. Ihre Heiterkeit war jedoch tief verwurzelt. Selbst in den schwierigsten Situationen war sie nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, seien es nun häusliche Streitigkeiten oder Krisen in der Küche vom La Venezia. Wenn Grazia Lombardi die Nerven verlor, konnten sie darauf zählen, dass Serena di Stefano ihre bewahrte.
Sie begrüßte ihren Bruder mit einem Kuss auf beide Wangen, einem Lächeln und strahlenden Augen. »Komm rein, Marco. Ich hab frischen Kaffee aufgebrüht.«
Der Kaffee war auf italienische Weise zubereitet, in einem kleinen Topf auf dem Herd, stark und aromatisch, ohne Milch in einer winzigen Tasse serviert. Ein Fingerhut voll reinen Koffeins. Mark nahm ihn dankbar an.
Sie setzten sich an den Küchentisch; in diesem Haushalt war genau wie in dem ihrer Eltern die Küche das eigentliche Zentrum, in dem sich Alltäglichkeiten ebenso wie bedeutsame Momente abspielten.
»Wie läuft’s denn so?«, fragte Mark.
»Im Restaurant geht’s zu wie im Tollhaus.«
»Na ja, Weihnachten eben. Gibt es viele Betriebsfeste?«
Sie nickte. »Es werden von Jahr zu Jahr mehr. Und es fängt immer früher an – dieses Jahr ist es schon vor dem Dezember losgegangen. Jeden Mittag, jeden Abend. Wir sind total ausgebucht. Wenn das so weitergeht, servieren wir das Weihnachtsessen in den Sommerferien, um die Liste abzuarbeiten.«
Mark grinste. »Und wie kommt Mama damit klar?«
Serena verzog das Gesicht. »Dreimal darfst du raten.«
»Es ist ihr Lebenselixier«, beantwortete Mark seine Frage selbst.
»Das kannst du laut sagen. Ohne das Restaurant würde sie einfach nur rumsitzen und … alt werden. Die ganze Aufregung hält sie jung.«
Als er die Fältchen um Serenas Augen sah, wurde Mark bewusst, dass sie selber keine junge Frau mehr war. In diesem Jahr hatte sie ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. In den mittleren Jahren, egal, wie man es betrachtete. Und so viel jünger war er auch nicht mehr – ein ernüchternder Gedanke.
»Wie geht’s Joe?«, fragte er automatisch nach einem erfrischenden Schluck Kaffee.
»Joe ist … eben Joe. Arbeitet lange, besonders gegen Semesterende. Er hat jede Menge Klausuren zu korrigieren und behauptet, zu Hause, wo Chiara so viel Krach macht, hätte er nicht die nötige Ruhe dafür. Sie übt gerade den Text für das Krippenspiel bei der Schulaufführung ein.«
»Ich dachte, sie wäre die Maria.«
Serena nickte. »Ist sie auch. Eine große Ehre, Mama ist ganz aus dem Häuschen.«
»Seit wann hat Maria denn Text zu sprechen?«, wollte Mark wissen. »Ich dachte, sie sitzt nur strahlend da vor Glück, Gottes Sohn geboren zu haben.«
»Vergiss nicht Mariä Verkündigung«, sagte Serena mit einem Lächeln. »Du weißt schon. Wo der Engel ihr alles erklärt, die ganze Ave-Maria-Geschichte. ›Mir geschehe, wie du gesagt hast‹, antwortet Maria. Dann sagt sie das Magnificat: ›Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes.‹ Und dann hat Maria noch einen Monolog an der Krippe.«
»Wie?« Mark stellte seine Tasse ab. »Ich bin ja nicht gerade bibelfest, aber soviel ich weiß, hat Maria keinen Monolog.«
Serena zog eine Augenbraue hoch. »Dichterische Freiheit. Die Lehrerin hält sich für eine kleine Theaterschriftstellerin. Jedenfalls hat Chiara einiges an Zeilen zu lernen. Du wirst doch kommen, oder?«
»Fest in meinem Terminkalender vorgemerkt. Würde ich um nichts auf der Welt verpassen wollen. Jetzt schon gar nicht, wo ich von dem Text weiß.«
Sie griff nach der Kaffeekanne und hielt sie einladend über die Tasse. »Noch Kaffee?«
Mark warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr an der Wand; er musste endlich mit dem Grund für seinen Besuch herausrücken, schließlich war er auf dem Weg zur Arbeit. »Ja, danke, noch ein bisschen.«
Nachdem sie sich selber nachgeschenkt hatte, machte Serena eine Packung Biscotti auf und schüttete sie auf einen Teller. »Nimm einen«, drängte
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