Schuldig wer vergisst
Gemeinsam mit ihm würde es Spaß machen, den Baum zu schmücken, alleine dagegen war es nur eine lästige Pflicht.
Eine lästige Pflicht. Das brachte ihre Gedanken unweigerlich auf ihre Mutter. In den letzten Wochen, in denen sie und Marco sich nähergekommen waren, hatte sie ihre Mutter vernachlässigt, und das nagte an ihrem Gewissen. Laura Anson roch Schuldgefühle schon von Weitem, und sie verstand es bestens, sie auszunutzen.
Sie sollte wirklich ihre Mutter besuchen.
Callie ging in ihr Arbeitszimmer, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und starrte auf das Telefon. Um sich Mut zu machen.
Das Telefon klingelte. Hinrichtung aufgeschoben. »Danke, lieber Gott«, dachte sie und griff nach dem Hörer.
»Hi, Schwesterherz«, hörte sie ihren Bruder sagen.
»Peter!«
»Lange nicht gesehen.«
So lang war es auch wieder nicht her – nur ein paar Tage; mit ihrem Bruder Zeit zu verbringen, war eine Freude und keine Pflicht, und da sie beide flexible Arbeitszeiten hatten, schafften sie es meistens, mindestens einmal die Woche zusammen
zu sein. Peter war freischaffender Musiker; er arbeitete gewöhnlich abends, und so kam er oft tagsüber auf eine Tasse Tee oder einen Happen zum Mittagessen vorbei.
»Du warst am Montag zum Mittagessen hier«, erinnerte sie ihn.
»Was hast du im Moment gerade vor? Ist dein freier Tag, oder?«
Callie seufzte. »Eigentlich war ich dabei, mich seelisch auf einen Besuch bei Mum vorzubereiten. Ich saß gerade am Telefon, um mich für heute Nachmittag bei ihr anzumelden.«
»Ich komme mit«, erbot er sich. »Das macht es für uns beide leichter.«
»Oh, das wäre fantastisch.« Er hatte recht: Ihre Mutter konnte sich nicht gleichzeitig auf sie beide einschießen.
»Was hältst du davon, wenn wir zuerst was zu Mittag essen?«, schlug Peter vor. »Ich lade dich ein«, fügte er großspurig hinzu. »McDonald’s.«
»Bestimmt reicht’s doch für ein bisschen was Netteres. So oft, wie du schon bei mir gegessen hast.«
Er lachte leise und unbeschwert. »Na gut, dann leg ich noch eins drauf: Was hältst du von Pizza Express?«
»Klingt gut.«
»In ungefähr einer Stunde? Der an der Earl’s Court Road? Ich glaube, das ist der nächste auf dem Weg zu Mum.«
Callie sah auf die Uhr. »Müsste zu schaffen sein. Ich ruf Mum kurz an.«
»Dann bis gleich.« Und in provozierendem Ton fügte er hinzu: »Ich habe dir was Interessantes zu erzählen.«
O nein, dachte Callie. Er hat sicher schon wieder einen neuen Freund. Die nächste Romanze ohne Zukunft.
In Bezug auf sein Liebesleben war Peter ebenso romantisch wie optimistisch: eine attraktive, doch gefährliche Kombination. Er stürzte sich in jede neue Beziehung mit ungebrochenem
Optimismus und glaubte jedes Mal aufs Neue, diesmal wirklich den Richtigen gefunden zu haben. Die unvermeidliche Enttäuschung hielt nie lange an. Bei all dem Auf und Ab war Callie seine engste Vertraute, die sich mit ihm freute und ihn hinterher tröstete. An diesem Tag war sie nicht sicher, ob sie der Aufgabe gewachsen war.
Kein Zweifel, Peter war diesmal noch um einiges überschwänglicher als sonst, als sie ihn im Eingangsbereich des Pizza Express entdeckte, wo er sich vor dem Regen untergestellt hatte. Es sah Peter absolut nicht ähnlich, zu früh da zu sein – ganz und gar nicht.
Dann brachten sie es am besten gleich hinter sich, beschloss Callie. »Raus damit, was ist los?«, fragte sie, während sie zu ihrem Tisch geleitet wurden.
»Alles zu seiner Zeit, Schwesterherz.«
Der Kellner stand bereit. »Möchten Sie was trinken?«
Peter fragte mit hochgezogener Augenbraue: »Ist das mit Mum noch aktuell?«
»Ja. Um halb drei.«
Er drehte sich noch einmal zum Kellner um. »Dann ja. Unbedingt. Eine Flasche Hauswein, roten.«
»Eine ganze Flasche Wein zum Mittagessen?«, protestierte Callie halbherzig.
»Vielleicht bestelle ich sogar noch eine zweite. Denk dran, es geht zu Mum.«
Ihre Mutter. Eine verbitterte Frau, die es ihrem Mann nie verziehen hatte, vor ihr gestorben zu sein. Eine Frau, die nie mit dem einverstanden war, was ihre Sprösslinge trieben. Die sich immer darüber beklagte, dass ihre Kinder sie nicht oft genug besuchten, und wenn sie es dann taten, deutlich zu verstehen gab, dass sie es ermüdend und lästig fand. Die es immer noch nicht aufgegeben hatte, für ihren schwulen Sohn ein nettes Mädchen zum Heiraten zu suchen.
Callie hielt ihr Glas hin, sobald die Flasche kam.
Peter studierte die Speisekarte. »Ich glaube, ich nehme den
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