Schuldig wer vergisst
gewesen war. Giuseppe di Stefano, Sohn eines Freundes von Marks Tante mütterlicherseits, war aus Italien angereist, um in London zu studieren. Er hatte im Restaurant einen Job bekommen – hauptsächlich als Tellerwäscher -, um damit sein Studium
zu finanzieren. Als Freund der Familie durfte er sogar als Langzeitgast ins Gästezimmer ziehen.
Das Unvermeidliche war geschehen; die Nähe hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Serena verliebte sich bis über beide Ohren in Joe, wie sie ihn bald nannten, und sie heirateten, sobald er sein Studium abgeschlossen hatte.
Jetzt wohnten sie einen Steinwurf vom Restaurant entfernt in Clerkenwell. Das war nicht nur für Serena praktisch, sondern auch für Joe, der im nahe gelegenen Bloomsbury an der University of London unterrichtete.
Auch von Marks Wohnung aus war es nicht weit. Er war vor wenigen Jahren in ein Apartment in der Nähe von High Holborn gezogen, das er sich mit einem Burschen teilte, der in der City arbeitete. Seine Mutter war entsetzt gewesen: Wieso sollte er daheim ausziehen? Noch dazu, um mit einem Fremden zusammenzuwohnen, wo er doch im Kreise seiner Familie leben konnte? Von seiner ihn liebenden mamma umsorgt und bekocht? Das war nicht normal. Das war nicht einzusehen. Italienische Männer blieben daheim bei ihren Müttern, bis sie heirateten und die Ehefrauen sich um sie kümmerten. Das war der Lauf der Dinge.
Er hatte nicht damit gerechnet, mit seinem Auszug so viel Staub aufzuwirbeln, doch selbst wenn, hätte er es in Kauf genommen. Für ihn war es absolut unverzichtbar, in seinen eigenen vier Wänden zu leben, auch wenn er die Wohnung mit einem Fremden teilte. Sein Mitbewohner Geoff war der Preis, den er zu zahlen hatte; allein hätte er sich die Wohnung niemals leisten können. Sie kamen gut miteinander zurecht, es gab keine Konflikte, zumal sie sich kaum sahen. Beide machten viele Überstunden, und in seiner Freizeit war Mark mit Callie zusammen.
Callie. Er dachte an sie, während er seine Cornflakes aß; er dachte meistens an sie, wenn er sich nicht auf andere Dinge konzentrieren musste. Und oft sogar dann.
Was sollte er wegen Callie unternehmen?
Ein Problem mit Callie war natürlich ihr Beruf. Sie war eine Diakonin der anglikanischen Kirche. Noch keine Priesterin, doch in wenigen Monaten würde sie es sein. Und das war, auch wenn er es nicht gerne zugab, für ihn ein Problem.
Nicht die Sache mit der anglikanischen Kirche; das machte ihm nichts aus. Seine Eltern allerdings – besonders seine Mutter – hätten damit natürlich ihre liebe Not. Für sie gab es nur eine Kirche, und das war nicht die anglikanische.
Für Mark dagegen ging es nur um ihre Priesterschaft. Er war mit der Kirche aufgewachsen, hatte vor Father Luigi und Father Giovanni und Father Giorgio und all den anderen Priestern, die ihre Schäfchen auf dem Pfad der Tugend hielten, den nötigen Respekt gehabt. Sie waren anders – ein wenig entrückt. Nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut mit entsprechenden Bedürfnissen. Seine Mutter hatte ihm diese idealisierte Auffassung des Priesteramts eingeflößt, und sie war tief in ihm verankert.
Callie dagegen war definitiv aus Fleisch und Blut: und sehr begehrenswert obendrein. Sie war attraktiv, warmherzig und – ja – sexy.
Unter anderen Umständen jedenfalls …
Aber sie war dabei, Priesterin zu werden. Sie musste sich an feste Normen halten, an eine ganz bestimmte Lebensweise, die sie zu etwas Besonderem machte. Es wäre nicht richtig, sie in eine physische Beziehung zu drängen, jedenfalls nicht, solange er ihr noch keine feste Bindung versprechen konnte.
Dafür war es noch zu früh. Seine Eltern wussten nicht einmal, dass sie existierte.
Weihnachten mit all seinen familiären Verpflichtungen war nicht mehr weit, und er würde Callie über die Feiertage so oft wie möglich sehen wollen. So konnte es nicht weitergehen; er durfte sie nicht vor la famiglia verstecken. Es war
höchste Zeit, dass er mit Serena sprach. Sie war vernünftig und würde seine Situation nachempfinden können. Sie würde nicht ausflippen wie seine Mutter. Sie würde wissen, wie er seiner Mutter die Sache schonend beibringen konnte.
Am besten ging er jetzt auf dem Weg zur Arbeit bei ihr vorbei. Auf der Stelle, bevor ihn der Mut verließ.
Abgesehen von ihrer unglücklichen Neigung zu Fehlgeburten hatte Serena di Stefano wenig mit ihrer Mutter gemein. War Grazia Lombardi klein und dunkelhaarig und entsprach damit der klassischen Vorstellung von
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