Schuldig wer vergisst
Norton?«
Cowley nahm den Kaugummi aus dem Mund, wickelte ihn in ein Papierchen und warf sich einen frischen ein, bevor er antwortete: »Er hat keinerlei Ausweispapiere dabei, wenn Sie das meinen, Chef. Aber er passt auf die Beschreibung. Weiß, männlich, Ende zwanzig. In Jogginganzug. Teure Sportschuhe.«
»Und der iPod?«, fragte Neville bei der Erinnerung an Cowleys neidische Frage tags zuvor.
»Kein iPod.« Cowley nickte bedächtig. »Ich weiß, es ist jetzt Ihr Fall, Chef. Aber ich an Ihrer Stelle würde da ansetzen. Ich glaube, der arme Kerl wurde wegen seines iPod umgebracht.«
Morag war von Bella entzückt, was Callie noch mehr für sie einnahm. »Ich vermisse Macduff wirklich sehr«, vertraute die Schottin ihr an. »Er war so ein prächtiger kleiner Kerl. Kleiner Hund, großes Herz.«
»Haben Sie schon mal überlegt, sich wieder einen anzuschaffen?«, fragte Callie. »In London halten sich eine Menge Leute einen Hund. Und wir sind so dicht am Hyde Park.«
Morag lief neben Callie den Bürgersteig entlang und blickte geradeaus. »Als Macduff starb, hab ich gedacht, ich würde mir nie wieder einen Hund zulegen«, erklärte sie, und ihre Worte nahmen als kleine Wölkchen in der kalten Luft sichtbar Gestalt an. »Zu … schmerzlich. Wenn man ihn verliert. In letzter Zeit habe ich allerdings schon öfter
überlegt, wie schön es wäre, was Lebendiges um sich zu haben.«
»Na dann.« Callie war Feuer und Flamme. »Ich bin sicher, Sie könnten einen Rettungshund bekommen. Oder falls Sie wieder einen wie Macduff wollen – ein Cairn, nicht wahr? -, da gibt es sicher irgendwo Züchter. Ich könnte im Internet nachsehen.«
»Nein.« Morag schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre dem Hund gegenüber nicht fair.«
»Aber warum denn nicht? Es ist wirklich nichts Besonderes, sich in London einen Hund zu halten. Und Sie sind doch meistens daheim, nicht wahr?«
Morag blieb stehen, und Callie zog Bella an der Leine zurück. Schließlich wandte sich Morag zu Callie um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr über die gegerbten Wangen rollten. »Oh, es tut mir leid«, sagte Callie reumütig. »Ich wollte Sie nicht beschwatzen oder so.«
»Ich war beim Arzt«, sagte Morag so leise, dass Callie die Ohren spitzen musste. »Deshalb wäre es nicht fair, mir einen Hund anzuschaffen. Ich …« Ihre Stimme ging in ein kurzes Schluchzen über. »Ich habe Krebs.«
Das gehörte zu den Dingen, die Neville an seinem Beruf hasste: den Angehörigen die schlimme Nachricht zu überbringen. Doch jetzt, wo er den Fall bearbeitete, war es auch an ihm, Rachel Norton über die Leiche aus dem Kanal zu unterrichten. Und es duldete keinen Aufschub. Hatten sie erst die Arbeit am Fundort abgeschlossen und den Toten zur Leichenhalle geschafft, musste er mit Rachel Norton dorthin fahren, damit sie ihn als nächste Angehörige identifizierte.
»Gott, Sid«, sagte er, als sie in die Nähe des viktorianischen Hauses kamen. »Bei solchen Gelegenheiten wünschte ich mir, ich würde noch rauchen. Im Moment könnte ich gut und gerne einen Glimmstängel gebrauchen.«
»Ich auch, Chef«, sagte Cowley finster. »Es sind …« Er sah auf die Uhr. »Es sind jetzt siebenunddreißig Stunden und zweiundzwanzig Minuten seit meiner letzten Zigarette.«
»Wen interessiert das schon, eh?«, seufzte Neville. »Und was machen wir, wenn bei ihr plötzlich die Wehen anfangen oder so? Wir sollten auf der Stelle einen Family Liaison Officer dazuholen.«
Sie standen vor dem Haus der Nortons. Neville wollte gerade die Klingel drücken, als er und Cowley sich ansahen und wie aus einem Mund sagten: »Yolanda Fish.«
»Rufen Sie sie von Ihrem Handy aus an«, wies Neville den Sergeant an. »Wenn sie es irgendwie einrichten kann, soll sie sich mit uns im Leichenschauhaus treffen.«
Nevilles Finger schwebte immer noch über dem Klingelknopf. Für jeden noch so kurzen Aufschub dankbar, wartete er, bis Cowley seinen Anruf erledigt hatte und zur Bestätigung nickte. »Ja«, sagte er. »Sie kommt.«
»Gott sei Dank«, murmelte Neville und drückte wild entschlossen die Klingel.
Rachel Norton öffnete schon nach wenigen Sekunden. Es war, als hätte sie seit ihrem letzten Besuch vor fast vierundzwanzig Stunden hinter der Tür gestanden und gewartet. Sie hatte Schatten unter den großen Augen, und ihr Gesicht war blass. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Kommen Sie rein«, sagte sie in einem niedergedrückten Ton und einer vom Weinen
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