Schuldig wer vergisst
Brian Stanford, Pfarrer von All Saints’, blieb an seinem freien Tag gerne lange im Bett. Normalerweise galt das auch für seine Frau Jane, doch an diesem Morgen war sie schon früh wach. Eine Weile blieb sie noch im Bett, dann stand sie auf und zog sich rasch ihren Morgenmantel über – das viktorianische Pfarrhaus war zugig und schlecht geheizt. Sie lief so leise, wie sie konnte, um Brians Schlaf nicht zu stören.
Jane ging hinaus in den Flur, stellte sich auf den Treppenabsatz zum ersten Stock. Dort befand sich ein Fenster, und wenn man in einem bestimmten Winkel stand und die Gardine ein wenig lupfte, konnte man die Kirche sehen. Zuweilen fand Jane es beruhigend, das solide, viktorianische Gotteshaus zu betrachten.
Außerdem reichte die Sicht auch bis zum Gemeindesaal und der Tür an der Seite zur Wohnung der Kuratin im ersten Stock. Im selben Moment, als Jane dort stand, flog diese Tür auf, und Callie hastete mit flatternder Soutane heraus, um im Eilschritt zur Kirche zu kommen.
Schon wieder spät dran, dachte Jane und verzog missbilligend den Mund. Zwar hatte sie keine Armbanduhr um, doch die Uhr am Kirchturm zeigte, dass die Kuratin auf den letzten Drücker kam.
Nicht wirklich überraschend, wenn man bedachte, wie spät dieser junge Mann letzte Nacht ihre Wohnung verlassen hatte. Auf der Kirchuhr war es fast Mitternacht gewesen.
Jane war gewöhnlich um Mitternacht nicht mehr auf, und es war auch nicht ihre Gewohnheit, das Kommen und Gehen
bei der Kuratenwohnung im Auge zu behalten. Doch in letzter Zeit hatte sie nicht gut geschlafen, und so schlich sie nachts oft zu diesem Fenster und suchte den tröstlichen Anblick der Kirche.
Letzte Nacht hatte sie diesen jungen Mann nicht zum ersten Mal gesehen. Schon bei früheren Gelegenheiten hatte sie im schummrigen Licht der Straßenlaternen einen Blick auf ihn erhascht. Einmal hatte sie ihn bei Tage gesehen und ihn sich genauer angeschaut. Schlank, mit gewelltem dunklem Haar.
Sie fragte sich, wer er wohl war: jedenfalls kein Mitglied ihrer Gemeinde, so viel war schon mal sicher. Jane hielt sich etwas darauf zugute, die Gemeinde bestens zu kennen, und jemand Neues wäre ihr nicht entgangen. Und sie fragte sich auch, ob Brian wohl davon wusste. Hatte seine Kuratin sich ihm anvertraut?
Die Verlobung mit Adam Masters war erst vor wenigen Monaten in die Brüche gegangen. Sie verschwendet wirklich keine Zeit, dachte Jane säuerlich.
Junge Leute schienen heutzutage die Beziehungen zu wechseln wie andere die Hemden. Nicht, dass Callie noch gar so jung war – immerhin war sie schon dreißig. Doch Jane kam es vor, als gehörte sie einer völlig anderen Generation als sie und Brian an, der inzwischen auf die fünfzig zuging.
Und ihr eigener Sohn Simon? War seine Beziehung zu dieser gewissen Ellie eine kurzlebige Angelegenheit? Charlie glaubte es offenbar nicht, und sein Zwilling kannte ihn schließlich besser als irgendjemand sonst. Jane hoffte inständig, dass Charlie sich in diesem Fall einmal täuschte.
Nicht dass sie eifersüchtig wäre, wie Charlie angedeutet hatte. Das war lachhaft: Wieso um Himmels willen sollte sie auf die Freundin ihres Sohnes eifersüchtig sein? Nein, Simon war einfach zu jung. Gerade mal achtzehn, viel zu jung, um sich mit einem Mädchen einzulassen.
Einzulassen? Was hieß das heutzutage? So wie Charlie sich ausgedrückt hatte, bedeutete es, dass sie miteinander schliefen. Sex hatten, um es klar zu sagen. Junge Menschen schienen das mir nichts dir nichts zu tun, auch wenn sie ihre eigenen Jungs nicht so erzogen hatten. Falls es aber doch so war, dann hoffte sie zumindest, dass Simon so klug war, aufzupassen. Es konnte schon mal ein Malheur passieren, und Jane hatte keine Lust, schon Großmutter zu werden.
Sie hatte Brian noch nicht von Simon und Ellie erzählt. Es hatte sich einfach noch keine Gelegenheit ergeben. Und irgendwie hatte sie auch das Gefühl, mit Brian darüber zu sprechen würde der Beziehung mehr Gewicht verleihen, als sie verdiente, und Tatsachen schaffen, wo noch gar keine waren. Möglicherweise hielt er es für seine Pflicht, mit Simon ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen – als Vater und, schlimmer noch, als Priester. Das wäre schrecklich – für alle Beteiligten unerträglich peinlich. Falls sie es ignorierte, erledigte sich das Problem vielleicht von selbst, und Brian brauchte nie davon zu erfahren.
Außerdem war heute in Oxford der letzte Tag des Herbstsemesters. Morgen würden die Jungen nach Hause
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