Schuldig
nächsten Morgen drang Kälte ins Haus. Daniel klapperten die Zähne, als er nach unten ging, um Kaffee aufzusetzen. Er rief im Krankenhaus an: Trixie hatte eine gute Nacht hinter sich.
Nun, das hatte er auch. Er hatte den Fehler gemacht, sich nicht einzugestehen, dass zwischen ihm und Laura vieles im Argen lag. Vielleicht musste man erst ganz unten ankommen, um sich von dort wieder Richtung Oberfläche abstoÃen zu können.
Er hockte vor dem Kamin und legte Kleinholz auf das brennende Papier, als Laura die Treppe herunterkam. Sie trug einen Pullover über ihrem Pyjama, und ihre Wangen waren noch vom Schlaf gerötet. »Morgen«, murmelte sie und ging an ihm vorbei in die Küche.
Daniel hoffte, dass sie etwas über letzte Nacht sagen würde, einräumen würde, dass sich etwas zwischen ihnen geändert hatte, doch Laura sah ihn nicht einmal an. Schlagartig war es mit seiner Zuversicht vorbei. Was, wenn die spinnwebzarte Verbindung, die sie letzte Nacht geknüpft hatten, kein erster Schritt war, wie er gehofft hatte, sondern ⦠ein Fehler? Was, wenn sie es im Grunde gar nicht gewollt hatte?
»Ich hab im Krankenhaus angerufen, wir können Trixie um neun abholen«, sagte er sachlich.
Als Trixies Name fiel, wandte Laura sich um. »Wie gehtâs ihr?«
»Sehr gut.«
»Sehr gut? Sie hat gestern versucht, sich umzubringen.«
Daniel hob den Kopf. »Na ja ⦠dann gehtâs ihr wohl im Vergleich zu gestern ⦠verdammt gut.«
Laura starrte auf die Arbeitsplatte. »Vielleicht gilt das ja für uns alle drei«, sagte sie.
Ihr Gesicht war rot, und Daniel begriff, dass sie nicht verlegen war, sondern ängstlich. Er stand auf, ging in die Küche und trat neben sie. Irgendwann zwischen gestern Abend und dem Sonnenaufgang heute Morgen hatte sich die Erde unter ihnen bewegt. Entscheidend war nicht, was sie sich gesagt hatten, sondern was ungesagt geblieben war: dass Vergeben und Vergessen untrennbar zusammengehörten â wie die zwei Seiten einer Medaille â und doch nicht gleichzeitig existieren konnten. Wer das eine wählte, konnte das andere nicht haben.
Daniel schlang einen Arm um Lauras Taille und spürte, wie seine Frau erschauerte. »Kalt drauÃen«, sagte sie.
»Mörderisch. Ich glaube, damit hat keiner gerechnet.«
Er öffnete die Arme, und Laura schmiegte sich an ihn, schloss die Augen. »So etwas passiert einfach«, erwiderte sie. Im Kamin stoben Funken auf und jagten den Schornstein hinauf.
Am Morgen hatte Trixie schon mit einem Psychiater reden müssen, und wie es aussah, würde ihr das von nun an bis in alle Ewigkeit zweimal die Woche blühen. Es spielte keine Rolle, dass die Protokolle dieser Sitzungen wie die der Gespräche mit Janice möglicherweise als Beweismittel bei Gericht landen würden. Wenn sie sich weigerte, musste sie im Krankenhaus auf der psychiatrischen Station bleiben, in einem Zimmer mit einem Mädchen, das seine eigenen Haare aÃ. AuÃerdem würde sie Medikamente nehmen müssen â unter den aufmerksamen Augen ihrer Eltern, die im Zweifelsfall sogar in ihrem Mund nachsehen würden, ob sie die Pillen auch nicht in den Wangen oder unter der Zunge versteckt hatte. Seit die beiden heute Morgen ins Krankenhaus gekommen waren, hatte ihre Mutter ein Dauerlächeln aufgesetzt, und ihr Vater fragte ständig, ob sie irgendwas brauche. Und ob , hätte sie am liebsten geantwortet. Ein Leben .
Trixie schwankte zwischen dem Wunsch, von allen in Ruhe gelassen zu werden, und der Verwunderung darüber, dass sie wie eine Aussätzige behandelt wurde. Selbst als sie bei diesem blöden Psychiater war und der ihr Fragen gestellt hatte wie: Meinst du, du bist im Augenblick selbstmordgefährdet? , hatte sie das Gefühl, als würde sie sich im Theater eine Komödie ansehen. Sie wartete darauf, dass das Mädchen, das sie spielte, irgendwas Geistreiches sagte wie: Oh ja, unbedingt ⦠aber ich reià mich zusammen, bis das Publikum weg ist . Doch stattdessen sah sie zu, wie die Schauspielerin, die in Wirklichkeit sie war, zusammenklappte wie ein Kartenhaus und in Tränen ausbrach.
Trixies sehnlichster Wunsch war unerfüllbar â nämlich nicht länger das Mädchen zu sein, um das sich alle sorgten, sondern wieder zu dem Mädchen zu werden, das sich über die anstehende Bioarbeit oder ihr Wunschcollege Gedanken machte.
Die Heimfahrt
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