Schuldig
beiden an. Keine Frage: Trixie war die Tochter ihrer Mutter. Das sah man nicht nur an ihrer Haar- und Augenfarbe: Manchmal warf sie ihm einen Blick zu oder hatte einen Gesichtsausdruck, der ihn an die junge Laura erinnerte.
Er ging vor Laura in die Hocke. Sie schlug die Augen auf und blickte Daniel an. Für den Bruchteil einer Sekunde lächelte sie, hatte vergessen, wo sie war, wie es um ihre Tochter stand und was zwischen ihnen beiden nicht mehr stimmte. Daniel merkte, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten, als könnte er diesen Augenblick festhalten.
Sie schaute zu Trixie hinüber, vergewisserte sich, dass sie noch schlief. »Wo warst du denn?«
»Bin durch die Gegend gefahren.«
Er zog seine Jacke aus und verteilte seine Zeichnungen auf der blassgrünen Decke des Krankenhausbettes. Da war Trixie an dem Tag, als Daniel die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhielt, wie sie auf seinen Schoà kletterte und fragte: Wenn alle sterben, hört die Welt dann einfach auf ? Trixie, wie sie eine Schmetterlingsraupe in der Hand hielt und überlegte, ob das ein Junge oder ein Mädchen war. Trixie, wie sie seine Hand wegstieÃ, als er ihr eine Träne von der Wange tupfen wollte, und zu ihm sagte: Wisch meine Gefühle nicht ab .
»Wann hast du die gemacht?«, flüsterte Laura.
»Heute.«
»Aber es sind so viele â¦Â«
Daniel antwortete nicht. Er hatte keine Worte, die groà genug waren, um Trixie begreiflich zu machen, wie sehr er sie liebte, deshalb wollte er, dass sie beim Aufwachen mit Erinnerungen bedeckt war.
Und er wollte nicht vergessen, warum er sie unmöglich gehen lassen konnte.
Von seinem Freund Cane hatte Daniel gelernt, dass Sprache eine enorme Kraft war. Wie die meisten Yupik-Eskimos lebte Cane nach drei Regeln. Die erste besagte, dass Denken und Handeln untrennbar miteinander verbunden waren. Canes GroÃvater hatte zahllose Male erklärt, dass man einen Elch unmöglich richtig zerlegen konnte, wenn man gleichzeitig darüber redete, welches Mädchen aus der fünften Klasse schon einen richtigen BH trug.
Die zweite Regel besagte, dass die Gedanken des Einzelnen weniger wichtig waren als das kollektive Wissen der Ãlteren â also tu, was man dir sagt, und hör auf zu jammern.
Die dritte Regel konnte Daniel am wenigsten nachvollziehen. Sie besagte, dass Worte die Macht hatten, das Denken eines anderen Menschen zu verändern ⦠selbst wenn sie unausgesprochen blieben. Deshalb widersprachen die Yupik auch nicht, als der Herrnhuter Prediger ihnen sagte, sie müssten sonntags ihr Jagdcamp verlassen, um am Gottesdienst teilzunehmen, obwohl sie keineswegs die Absicht hatten, seiner Aufforderung nachzukommen. Was für den Prediger eine unverfrorene Lüge war, war für die Yupik Ausdruck von Respekt: Sie mochten den Prediger zu gern, um ihm zu sagen, dass er sich irrte. Stattdessen willigten sie einfach ein, handelten aber nicht danach.
Letzten Endes war es diese Regel, die einen Keil zwischen Cane und Daniel trieb. »Morgen ist ein guter Tag zum Jagen«, sagte Cane oft zu Daniel, und Daniel pflichtete ihm bei. Doch wenn Cane dann am folgenden Tag mit seinem GroÃvater loszog, um Karibu zu jagen, fragte er Daniel nicht, ob er mitkommen wollte. Daniel brauchte eine Ewigkeit, bis er den Mut aufbrachte, Cane zu fragen, warum er nie eingeladen wurde. »Aber ich lade dich doch ein«, lautete die verwunderte Antwort. »Jedes Mal.«
Daniels Mutter versuchte, es ihm zu erklären. Cane hätte Daniel niemals direkt gefragt, ob er mitkommen wollte, weil Daniel ja vielleicht schon andere Pläne hatte. Es wäre respektlos gewesen, eine förmliche Einladung auszusprechen, denn wenn die Worte einmal in der Welt wären, könnten sie Daniel veranlassen, seine Pläne zu ändern, und dafür hatte Cane seinen Freund zu gern. Aber wenn du dreizehn Jahre alt bist, hast du kein Gefühl für kulturelle Unterschiede. Entscheidend für dich sind die endlos langen Samstage, die du allein verbringen musst, wo du doch so gern mit auf die Jagd gegangen wärst. Entscheidend ist deine Einsamkeit.
Daniel begann, sich abzusondern, weil das weniger schmerzte, als abgewiesen zu werden. Er dachte nie richtig darüber nach, dass es für einen Yupik-Jungen, der ihn nicht mal direkt fragen konnte, ob er mit auf die Jagd kommen wollte, vielleicht noch schwerer wäre, ihn zu fragen, warum er wütend auf ihn
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