Schule der Armen
nach, bei Einladungen Kerzen auf dem Tisch zu brennen, wie es heutzutage in feinen Häusern üblich ist.
Dagegen müssen sie bei der Eigenart ihrer Wohnkultur einem einzigen Luxus entsagen – dem Luxus der Einsamkeit. Denn der Arme ist nur selten allein. Er lebt immer mit anderen Armen unter einem Dach, und je größer die Gemeinschaft, desto lieber ist es ihm. Die Armen sind von Natur aus begeistert gesellige Menschen. Oft laden sie in ihr einziges Zimmer, in dem schon sechs schlafen, noch einen Logiergast ein, und die Mahlzeiten verzehren sie am liebsten in großer Gesellschaft; eine innere Sucht scheint sie zu treiben, dauernd das Zusammensein mit anderen Armen zu suchen. Sie fürchten die Einsamkeit wie die Reichen den Tod. In Gemeinschaft ertragen sie es leichter – was eigentlich, das wissen sie selber nicht genau; die Armut, die Welt, das Leben. Darum schlafen so viele zusammen in einem Zimmer. Ihre Intimität ist überwältigend, jedoch von einem seltsamen Scham- und Keuschheitsgefühl durchdrungen.
Ein Schlafgänger erwähnte mir einmal in Berlin, daß er in einem Haus der Bülowstraße in einem von mehreren Menschen bewohnten Zimmer monatelang im selben Bett mit einem Stockfremden schlief, ohne daß sie sich miteinander bekannt gemacht hätten. Aus all dem ergibt sich, wie schwer es uns fällt, die Armen, ihre Beziehungen zum Schönen, zur Natur, untereinander und zu den Reichen zu verstehen. Am richtigsten wäre es wohl, in der Mehrzahl von ihnen zu sprechen, einzeln zählt der Arme mit seinem Gefühlsleben, seiner Gedankenwelt und seinen Empfindungen nicht, sondern nur in der Gemeinschaft, gewissermaßen im Pluralis. Sie behaupten, sich allein zu fürchten, in der Masse dagegen fühlen sie sich sofort gesünder, glücklicher und eher als menschliche Kreaturen.
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J eder begabte Arme lernt früher oder später, was Kinder, Frauen und große Künstler aus einer Art von Instinkt heraus wissen: daß man das Leben nicht ernst nehmen darf, da es ein Spiel ist. Nur diese drei Lebewesen empören sich nicht bei dieser Feststellung, während sie in den Ohren eines Richters, eines Militärs oder eines Nervenarztes geradezu unanständig klingt. Der begabte Arme wird mit dreißig Jahren unweigerlich als Gelegenheit zum Spiel erkennen, was man von Amts wegen und mit viel Feierlichkeit als Leben bezeichnet; diesen spielerischen Charakter bestätigt jeder große Künstler mit seinem Leben und seinem Werk ununterbrochen; aber auch die Frauen und Kinder bekennen sich zu dieser Anschauung. Sie wissen, daß dieses Spiel nicht immer heiter ist, aber auch, daß es sich nicht lohnt, seine traurigen Wendungen besonders ernst zu nehmen.
Der begabte Mensch spielt bis zu seinem Lebensende und erkennt, daß er über dem Spielen nichts Meritorisches versäumt. Er beginnt damit, daß er die unbewußt verzerrten Spiele der Erwachsenen nachäfft, besser gesagt aus der Tätigkeit der Erwachsenen das spielerische Element heraushebt und das, was die Erwachsenen als »Berufung« bezeichnen, bis zum äußersten verzerrt nachahmt. Noch verfeinerter als die Kinder gehen die Frauen vor, denn sie spielen unmittelbar mit den Erwachsenen. Für eine intelligente Frau gibt es keinen lächerlicheren und jämmerlicheren Anblick als einen Mann, der ihr über die Geheimnisse seiner »Berufung« einen Vortrag hält, die Herrlichkeit seiner »Sendung« schildert und prahlerisch die Schliche, Tücken und Gemeinheiten lobt, die er als »Talent« und »Fähigkeit« bezeichnet und die ihn im Kampf »um die Existenz« befähigen, »mit mehr Talent« als die Konkurrenz, in Wahrheit also niederträchtiger, gieriger und gewissenloser vorzugehen. Die Frau, die dem Mann scheinbar mit Interesse und Wohlwollen zuhört, empfindet in Wahrheit Bedauern und Verachtung für diesen traurigen Tropf, der fest glaubt, daß eine intelligente Frau den großen Durchschnitt der männlichen Berufe, wie die Philologie, die Kartographie, den Handel, die Statistik, die Buchhaltung, die Kassenverwaltung und noch eine ganze Anzahl anderer Beschäftigungen, auf die der Mann so unaussprechlich stolz ist, ernstlich zu schätzen vermag.
Obwohl die Frau die wahre, schöpferische Arbeit, zu der nur sehr wenige Männer fähig sind, anerkennt, fürchtet und meidet sie diese Männer wie der Teufel das Weihwasser. Sie weiß genau, daß es zur Bewältigung des täglichen Lebens nur eine Methode gibt: aus seinen wichtigtuerischen und sinnlosen Zeremonien unverzagt die Spielgelegenheiten
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