Schule der Armen
Rosenstock, daneben reckt sich eine Sonnenblume, wie Dahlien, Nelken und Fuchsien auch nur in einem einzigen Exemplar zu sehen.
Tausende und Abertausende Miniaturgärten dieser Art reihen sich aneinander vor jeder Großstadt, diese unbegreiflichen symbolischen Kunstgärten der Armen, die sie nach vollbrachter Arbeit oder auch früh am Morgen aufsuchen, um den Rasen aus einem Trinkglas zu begießen, um an »der« Rose zu riechen, um den reifen Samenteller »der« Sonnenblume abzuschneiden, »den« Weinstock zu hacken und um sich schließlich auf das einzige Bänkchen zu setzen und wie die Mandarine weise und genießerisch dieses seltsame Stückchen Natur zu bewundern. Wie die abgeklärten, Reichtum und Armut mit derselben Gleichgültigkeit entgegennehmenden Völker weiß auch der Arme, daß man nur das Wenige richtig genießen kann; das Viele ist immer barbarisch, einfältig und ekelerregend. Und da er für den Genuß der freien Natur nicht genügend Geld besitzt, laubsägt er sich eine Miniaturnatur, in der er sich auf Zehenspitzen bewegt, auf dem Fleck wendet und die Schönheiten einer konzentrierten Flora genießt. So arm und so schlau ist er. Aber auch sonst, wenn der Arme seinen ästhetischen Sinn befriedigen will, genießt er das Schöne in kleinen Dosierungen.
Der Arme kann eine Platane lieben, die eisenumrahmt neben einer Trambahnhaltestelle steht, er vermag mit einem einzigen Blumentopf zu spielen, ja selbst mit einem Blatt. Sie sind richtige Lüstlinge, die durchtriebenen Lüstlinge des Auserlesenen. In ihren Zimmern und Fenstern pflegen sie ganz andere Blumenarten als die Reichen; so zum Beispiel verachten sie die Orchideen, schätzen im Winter die Rose und im Sommer die Chrysantheme gering. Sie halten sich selten einen Kakadu oder einen Harzer Roller, sondern lieber eine Lerche, einen Zeisig, kurzum einen proletarischen Vogel.
Dieses auserwählt Minutiöse charakterisiert auch ihren Wohnungskult. Sie sind leidenschaftliche Sammler, und gleich dem Reichen, der erlesenes französisches Porzellan, Werke der italienischen Goldschmiedekunst oder niederdeutsche Primitive sammelt, so sammelt auch der Arme patriotische und religiöse Drucke, Petroleumlampen von ausgefallener Form, Reklameaschenbecher aus Kaffeehäusern; und er achtet peinlich darauf, daß jedes Stück seiner Wohnungseinrichtung einer anderen Stilart angehört. Die »guten Stuben« der Armen, das heißt ihre Gesellschaftsräume, die sie nur bei großen Veranstaltungen nutzen – während sie selber sich lieber in ihren Privaträumlichkeiten, zum Beispiel in der Küche aufhalten, wo sie essen, manchmal sogar schlafen –, sind in den Augen von Sachverständigen die gleichen Aufbewahrungsplätze der Sammlerleidenschaft und des seltsamen Geschmacks wie die Empfangsräume der Reichen mit ihren Vitrinen.
Der Arme sammelt alles, was ihm in die Hände gerät; den Grammophontrichter aus dem Jahrhundertanfang stellt er auf, selbst wenn das Grammophon dazu fehlt, er verwahrt sorgfältig das leere Kompottglas, die Kerzenstummel, ein Stückchen Draht, eine seltene Raspel oder ein Unikum von einem alten steifen Hut; alle diese Gegenstände baut er in der »guten Stube« hübsch ausgerichtet oben auf dem Schrank oder auf der Truhe auf und wehrt bescheiden die Anerkennung seines Gastes ab, wenn dieser die besonders seltenen und feinen Gegenstände der Sammlung preist.
Eine gewisse Verinnerlichung charakterisiert ihre Wohnkultur. Die Kleinwohnung, die die modernen Architekten mit qualvoller Mühe verwirklicht haben und in der ein einziges Zimmer mit den entsprechenden Einbauten unter geiziger Ausnutzung eines jeden Millimeters Raum als Wohn-, Speise- und Schlafzimmer dient – diese Wohnungsfrage haben die Armen, dank ihrer alten Wohnkultur, bereits vor Jahrhunderten gelöst, und sie wenden die Einzimmereinteilung in der Praxis mit ausgezeichnetem Erfolg an. Den Raum besser ausnutzen, als die Armen es in ihren Wohnungen tun, kann man wirklich nicht mehr; ohne Einbauten, einfach durch einfallsreiche und praktische Einteilung gebrauchen sie das eine Zimmer gleichzeitig als Schlaf-, Wohn- und Eßzimmer, ja sogar als Werkstatt und als Kleintierstall. Eine tausendjährige Erfahrung hat sie gelehrt, auf welche Weise man ohne die teure Holz-, Kohlen- oder gar Zentralheizung, kurzum überhaupt ohne jede Heizung auskommen kann. Bei der Innenbeleuchtung richten sie sich ausschließlich nach praktischen Gesichtspunkten und ahmen ganz gern die Modetorheit der Reichen
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