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Schule für höhere Töchter

Schule für höhere Töchter

Titel: Schule für höhere Töchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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man tun muß.«
    »Wirklich? Ich bin mir dessen nicht mehr so sicher. Mich selbst, so habe ich herausgefunden, verwirrt es jedesmal, wenn ich mir die Frage stelle, was ich tun soll. Die einzig klare Frage, die man sich stellen sollte, ist die, was man tun will.«
    »Ist das nicht reine Zügellosigkeit?«
    »Gewiß, so mag es klingen, aber seltsamerweise ist es das nicht. Die ›Sollte‹ - Menschen sind in Wirklichkeit die Zügellosen, weil sie nie herausfinden, was sie wirklich wollen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu lernen, daß die Entdeckung dessen, was man will, der Beginn einer Reise ist, an deren Ende die Erkenntnis steht. Ich vermute, daß Sie an wahrer Erkenntnis interessiert sind?«
    »Warum vermuten Sie das?«
    »Intuition. Wiedererkennen, vielleicht. Mr. Jablon, fast alle Gewalt und alles Böse auf der Welt entsteht durch die ›Sollte‹ - Menschen. Da bin ich mir absolut sicher.«
    »Und gehören Ihre langhaarigen, bombenwerfenden College-Studenten, die der kommunistischen Verschwörung dienen, auch zu den ›Sollte‹ – Menschen?« Sein Gesicht war vor Zorn rot angelaufen.
    »Natürlich tun sie das. Ich glaube nicht, daß sie Teil einer kommunistischen Verschwörung sind; ich glaube ohnehin nicht an Verschwörungen – sie sind zu schwierig in die Tat umzusetzen. Aber diese Studenten sind so sehr ›Sollte‹ - Menschen, wie man nur sein kann. Das ist einer der Gründe, warum sie von der radikalen Rechten nicht zu unterscheiden sind.« Kate hielt einen Moment inne und dachte an Antigone. Sie mußte ihren Schülerinnen sagen – nun, vielleicht gerade heute –, daß Antigone den tiefen, unleugbaren Wunsch hatte, die Leiche ihres Bruders zu begraben. Man brauchte für dieses Bedürfnis keine religiösen Gründe zu suchen; es ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, tote Körper mit einer gewissen Ehrfurcht zu behandeln. Doch Kreon hatte sie, und in erster Linie sich selbst, ins Verderben gestürzt, weil er sicher war, daß Antigones Bruder nicht begraben werden sollte.
    Mit einer gewissen Anstrengung kehrte Mr. Jablon zu konkreteren Dingen zurück, und Kate vermutete, daß er sich immer so verhalten hatte, wenn Fragen ihn auf den bittersüßen Pfad emotionaler Auseinandersetzungen gelockt hatten. »Sind alle zufrieden mit der Erklärung für den Tod meiner Schwiegertochter – nämlich daß sie, zu Tode erschreckt durch die Hunde, einem Herzinfarkt erlegen ist?« fragte er. »Mehr oder weniger.« Kate machte eine Pause. »Der Stand der Dinge ist der: Mein Mann hat vor, heute nacht selbst herauszufinden, ob es möglich ist, daß die Hunde sie nicht bemerkt und ihre Anwesenheit sozusagen nicht gemeldet haben. Wenn sie so sehr damit beschäftigt waren, Ihre Schwiegertochter zu Tode zu erschrecken, wären sie wohl kaum davongetrottet, um zur vorgesehenen Zeit das Signal zu geben. Sollten sie versagt haben, erklärt das zwar noch nicht, warum Ihre Schwiegertochter hergekommen ist, aber es könnte bewirken, daß man diesem Punkt ein wenig mehr nachgeht.«
    »Ich verstehe, Mrs. Fansler. Wären Sie wohl so freundlich, mich über das Ergebnis des Experiments von heute nacht zu unterrichten? Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich natürlich auch mit Miss Tyringham sprechen…«
    »Es ist wahrscheinlich nichts dagegen einzuwenden, daß ich Ihnen Bescheid sage; ich werde es tun, wenn dem so ist. Und bitte, Miss Fansler ist richtig.«
    »Sie sagten, Ihr Mann.«
    »Ja. Ich muß mich beeilen, Mr. Jablon. Danke.« Daran hat er zu knabbern, dachte sie und stieg schnell in den Aufzug. Hatte Angelicas Mutter an jenem Abend den Aufzug benutzt, und wenn ja, wer hatte ihn für sie bedient, und wenn nein… Oh, dachte Kate, zur Hölle mit der ganzen Sache.
    Als Kate den Seminarraum betrat, war sie darauf vorbereitet, notfalls den Zeitplan über Bord zu werfen – auf dem eine Diskussion über Ismene und Haemon stand – und der Gruppe, allen, die Angelica, wenn nicht schon seit Jahren, dann wenigstens heute nahestanden, die Möglichkeit zu geben, über den Tod ihrer Mutter zu sprechen. Es gehörte zu den Prinzipien, die Miss Tyringham in das Theban eingebracht hatte, daß jeder festgelegte Stundenplan die Möglichkeit offen ließ, über ein aktuelles Ereignis zu sprechen, das in irgendeiner Weise, und sei es noch so sehr am Rande, einen Bezug zum Unterrichtsthema hatte. Die Schule, alle Schulen hatten die Tendenz zu sagen: ja, das ist wichtig, aber wir müssen zu den ägyptischen Dynastien zurückkehren, unserem

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