Schule für höhere Töchter
Haemon war die ganze Zeit die Höflichkeit in Person im Umgang mit seinem Vater, aber sein Vater verhöhnte ihn trotzdem. Was Haemon fehlte, war Selbstachtung, solange bis es dafür zu spät war.«
Es wurde noch mehr darüber gesagt, aber diese Worte blieben in Kates Gedächtnis haften, nachdem das Seminar vorbei war. Sie bat Betsy Stark, noch zu bleiben. Sie wollte mit ihr besprechen, ob sie mit ihrem Gedicht nicht am Lyrik-Wettbewerb der Schule teilnehmen wollte.
»Wenn du keine dringende Verpflichtung hast«, sagte Kate.
»In Ordnung«, sagte Betsy und ließ ihre Büchertasche auf den Boden fallen. Sie sah Kate mißtrauisch aus den Augenwinkeln an.
Kate ging zur Tür und machte sie zu. »Setz dich, Betsy«, sagte sie. »Hab keine Angst, ich werde keinen Ballermann aus der Tasche zaubern und dir an den Kopf halten. Meine Absichten sind alles andere als ehrenhaft, aber ich mache kein Geheimnis daraus.«
»Es geht also nicht um das Gedicht?«
»Das war ein Vorwand, aber Mrs. Johnson möchte, daß ich dich überrede, es einzureichen, und Mrs. Copland will unbedingt mindestens ein Gedicht von jedem Lehrer; du bist also sozusagen meine einzige Chance.«
Betsy lachte. »Mir ist es egal, ob Sie es einreichen oder ich. Aber es ist ein Gedicht, das zu Mißverständnissen führen kann, wie unsere Diskussion bewiesen hat.«
»Ich weiß«, sagte Kate. Die Klasse hatte Betsy vorgeworfen, sie versuche, den Knaben des Tiresias zu einem Peter Pan zu machen, was, wie Kate bereitwillig zugab, ein schlimmes Schicksal war. Aber warum, so hatte sie gefragt, sollen wir auf eine interessante Idee verzichten, nur weil Barry die viktorianische Prüderie aufgestachelt hat?
»Der eigentliche Grund ist«, sagte sie nun, »daß ich Hilfe brauche, was Angelica betrifft. Ich könnte ihr vielleicht helfen, aus dem Abgrund herauszuklettern, aber ich möchte keine schrecklichen Fehler machen. Also versuche ich dich anzuzapfen, wie Angelica sagen würde. Ich bitte dich nicht, irgendwelche Geheimnisse zu verraten, so gern ich auch wüßte, was ihr mit Matratzen zu schaffen habt – im Zusammenhang mit Kreon, meine ich.«
»Warum ich?« fragte Betsy.
»Ich weiß nicht genau, warum, aber als ich darüber nachdachte, fand ich es einleuchtend.«
»Daß ich eher petzen würde?«
»Das würdige ich keiner Antwort. Du kommst mir reifer vor, zumindest in mancher Hinsicht; jedenfalls klug genug, um dir vorstellen zu können, daß Geheimnisse, insbesondere wenn sie etwas mit dem Tod der Mutter zu tun haben, immer bedrohlicher sind als die Wahrheit.«
Kate war ehrlich mit Betsy, sagte aber nicht die volle Wahrheit. Sie spürte, daß Betsy eine Art Gratwanderung machte zwischen dem ihr bestimmten persönlichen Schicksal und dem Wunsch nach Anerkennung als Frau in einer Männerwelt. Ein Kollege und Frauenhasser hatte an der Universität einmal zu Kate gesagt: »Es gibt keine Frau, die nicht jede Gabe, die sie haben mag, eintauschen würde gegen Erfolg bei Männern. Selten, ganz selten findet man eine Frau, die Erfolg bei den Männern hat und deren Gaben, wenn sie sie schließlich zu schätzen weiß, noch intakt sind.« Kate kannte die Demütigungen nur allzu gut, die die Gesellschaft, sogar eine so aufgeklärte Gesellschaft wie die des Theban, ihren weniger hübschen Mitgliedern bereitet. »Hündchen« werden sie von den Jungen genannt, deren Aufmerksamkeit sie erringen möchten – seltsam wie dieses Tier sich immer wieder aufdrängt –, und sie sind entweder gezwungen, an gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, an denen man sie dann wie ausgestoßene Sklaven behandelt, oder diesen gleich fernzubleiben, was als Eingeständnis von mangelndem Durchstehvermögen betrachtet wird; eine entwürdigende Alternative. Wenn es Mädchen wie Betsy gelang, ohne Bitterkeit auf die Gelegenheit zu warten, Männern statt Jungen zu begegnen, oder wenn sie bewußt auf die Rolle der von Männern umworbenen Frau verzichteten, könnten sie ihr eigenes Leben leben – aber die Gefahr, Ressentiments und Zynismus zu entwickeln, war groß, größer, so schien es Kate, als die Gefahren des Gesteinigtwerdens, das Antigone bevorstand.
»Entschuldigung«, sagte Kate, »ich hing gerade meinen wirren Gedanken nach und wollte dir Gelegenheit zum Nachdenken geben. Du kannst sagen, ich soll mich zum Teufel scheren und aus dem Zimmer rauschen, verstehst du?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Nun, zuerst einmal, wie war Angelicas Mutter? Und wie stand Angelica zu ihr?«
»Ich
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