Schule für höhere Töchter
heutigen Thema. Miss Tyringhams Vademecum für eine lebensnahe Schule schloß den Grundsatz ein, daß die Beziehungen, die sich zwischen den ägyptischen Dynastien und aktuellen Problemen herstellen lassen, das Lebenselixier sind, sowohl für Ägypten als auch für Erziehung und Bildung. Kate, die daher eher zu einem offenen Gespräch über Mrs. Jablon neigte, fand sich von den Schülerinnen mit Nachdruck in die Grenzen des Schicksals der Ismene verwiesen. Die Seminarteilnehmerinnen hatten beschlossen, entweder dem Rat der Schulversammlung zu folgen oder Angelica zu schützen.
Irene Rextons Referat rechtfertigte Ismenes Standpunkt. Sie entscheidet sich zu Beginn des Stücks dafür, keine Risiken für ihr Leben und ihre Sicherheit einzugehen. Sie schließt sich der großen Mehrheit derer an, die unbemerkt und unbedeutend bleiben wollen. Wenn sie nach Antigones Gefangennahme anbietet, Antigones Schicksal zu teilen, so wird ihr das Märtyrertum zu Recht verweigert, gegen das sie sich zuvor gewehrt hatte. Irene fand, es sei leicht, verächtlich auf Ismene herabzublicken, aber was würden die Antigones ohne die Ismenes dieser Welt als Hintergrund tun, vor dem sie ihren Glanz zur Schau stellen können?
»Du meinst also, sie bilde nur den Hintergrund für Antigone, wie Laertes für Hamlet?« fragte Freemond.
»Ich glaube schon«, sagte Irene. »Auch wenn es vielleicht nicht ihre Absicht ist, so ist es doch ihre Bestimmung. Ich will damit sagen, daß es keine Welt voller Antigones geben kann, wir aber in einer Welt der Ismenes leben, die auch alle Probleme in der Familie zu lösen haben, und ich denke, das sollten wir ihnen zugute halten.«
»Die schweigende Mehrheit«, sagte Alice.
»Die Mehrheit auf jeden Fall. Aber mit dem Mut, auch einzustecken und nicht nur auszuteilen. Das hält man ihnen allerdings nie zugute.«
»Ich verstehe nicht, warum die schweigende Mehrheit plötzlich Ismenes Tugenden zugestanden bekommen soll, nur weil sie, wie Ismene, nicht den Mut hat, aktiv zu werden und Dinge zu verändern?«
»Offensichtlich«, sagte Freemond, »ist es unter anderem Ismenes Aufgabe, Kreons wahren Charakter zu zeigen. Seine Feindseligkeit, seine Tyrannei ihr gegenüber zeigt, daß es ihm nicht um Gerechtigkeit, ja nicht einmal um das Gesetz geht, sondern nur um Macht.«
»Sie zeigt, wo seine Feindseligkeit liegt.«
»Aber«, sagte Elizabeth, »als wir damit gearbeitet haben, das heißt, wenn ihr daran denkt, also, sein Zorn ist nicht…« Ihre Stimme verlor sich.
»Selbst Angelica konnte als Kreon keinen besonders großen Zorn zustande bringen, als Ismene auf die Matratze einschlug«, sagte Alice, »mir scheint…« Die Blicke der anderen brachten sie zum Schweigen.
»Matratze?« fragte Kate. »Ist mir etwas entgangen?«
»Alice schwatzt immer soviel daher«, sagte Freemond, »und manchmal fängt sie richtig an zu phantasieren. Wem könnte sonst eine Verbindung von Kreon und einer Matratze einfallen?«
Natürlich konnte man Verbindungen zwischen ägyptischen Dynastien und der Gegenwart herstellen, aber die Mädchen waren keine Kinder mehr, und Kate zu sehr Teil des Establishments, als daß sie ihr diese Zusammenhänge erklären wollten.
»Warum, glaubt ihr, will Ismene mit Antigone sterben?« fragte Kate in die Stille hinein.
Freemond übernahm die Antwort. »Wohl mehr oder weniger aus demselben Grund, aus dem Antigone ihrem Bruder folgen will: Das Weiterleben hatte keinen Sinn mehr.«
»Ich kann an Ismene nichts Bemerkenswertes entdecken«, sagte Betsy, »sie ist genauso, wie man erwartet. Antigone ist es, die überrascht – verblüffend, daß Sophokles sich eine solche Gestalt ausdenken konnte.«
»Ismene ist langweilig, eine durchschnittliche Frau, trotz faszinierender Eltern«, sagte Alice. »Haemon ist der Mutige; wie viele Männer würden sich für den Tod mit einer Märtyrerin entscheiden, frage ich euch? Der einzige Mann, der irgendein Interesse an Jeanne d’Arc gezeigt hat, war ein Soldat, der ihr Herz aus dem Feuer holte, was ihr dann auch nicht mehr viel genützt hat. Haemon aber erstach sich über Antigones Leiche, und ich hoffe bei Gott, daß niemand daraus irgendeine freudianische Theorie ableitet.«
Die Klasse lachte und wandte sich Haemon zu, den Elizabeth McCarthy zum großen Vergnügen aller für sündig, arrogant und respektlos seinen Eltern gegenüber hielt.
»Meine Güte«, sagte Alice. »Er beweist doch nun wirklich, daß Höflichkeit Eltern gegenüber reine Verschwendung ist.
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