Schule für höhere Töchter
tatsächlich die Zähne. »Das habe ich Ihnen schon gesagt. Die Klingel! Ich weiß, daß sie etwas aufgespürt haben, wenn das Klingelzeichen nicht kommt, und dann sehe ich nach. Das ist der sicherste und zuverlässigste Schutz, den es gibt.«
»Hören Sie die Klingel auch im Schlaf?« fragte Kate.
»Ich schlafe tagsüber, wenn man mir die Gelegenheit gibt«, knurrte Mr. O’Hara.
»Wir gehorchen dem Wink«, sagte Reed, erhob sich und klopfte seine Pfeife in Mr. O’Haras gut gefülltem und wohlriechendem Aschenbecher aus. »Darf ich mich melden, wenn ich beschlossen habe, die angepflockte Ziege zu spielen? Danke, und richten Sie bitte Rose und Lily meine Grüße aus.«
Mr. O’Hara stapfte hinaus und öffnete ihnen die Falltür. »Verriegeln Sie die Tür von unten«, sagte er.
»Danke schön, Mr. O’Hara«, sagte Kate, ganz wohlerzogenes Mitglied des Theban.
Mr. O’Hara knurrte.
Neun
A m nächsten Morgen öffnete das Theban mit einer Schulversammlung. Gerüchte über die Leiche und die Hunde waren durch die Schülergemeinschaft geweht wie Wind durch ein Kornfeld – Kate dachte an Midas’ Frau, die das Geheimnis der Eselsohren ihres Mannes nicht für sich behalten konnte und es dem Schilf am Fluß erzählte, das die Neuigkeit dann verbreitete; die Metapher dieser alten Sage traf den Kern aller Gerüchte.
Es war ungewöhnlich, daß eine Versammlung der gesamten Schule mitten im Schuljahr stattfand, aber Miss Tyringham hatte die Notwendigkeit einer offenen Erklärung erkannt, einer Maßnahme, die den Schülerinnen, auch den kleinsten, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gab. Die Kleinen aus dem Kindergarten saßen in der ersten Reihe und sahen mit leuchtenden Augen zu Miss Tyringham auf, die in ihrem Talar auf dem Podium stand, und ihr Schweigen, das Schweigen der gesamten Zuhörerschaft war fast körperlich spürbar, wie der eigene Herzschlag in den Ohren. Da die Versammlung am Morgen stattfand, begannen sie mit einem Choral, der davon handelte, daß es im Leben eines jeden Menschen und einer jeden Nation Situationen gibt, die vor die Entscheidung zwischen Gut und Böse stellen. Sie sangen mit Hingabe, als gelte es, etwas zu bestätigen; dann setzten sie sich mit erwartungsvollem Geraschel. Miss Tyringham sprach:
»Ihr alle kennt den Grund für diese Versammlung, auch ohne daß ich ihn euch nennen muß. In unserer Schule hat sich ein Unfall ereignet, der zu allen möglichen Vermutungen Anlaß gibt. Passiert ist folgendes: Eine Frau, die Mutter einer Schülerin aus der Abschlußklasse, Angelica Jablon, wurde vor zwei Tagen am frühen Morgen tot im Schulgebäude aufgefunden. Wir wissen, daß sie an einem Herzinfarkt starb; ihr Tod wurde durch keinerlei Gewalteinwirkung verursacht. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob die Hunde sie erschreckt haben oder nicht, die, wie ihr nun alle wißt, nachts das Schulgebäude bewachen.
Ich will euch gegenüber nicht so tun, als seien uns alle Einzelheiten dieses Ereignisses klar. Wir wissen nicht, was sie im Schulgebäude gemacht hat, wonach sie gesucht hat. Wir werden mit Hilfe der Polizei und privater Ermittler unser Bestes tun, um so viel von der Wahrheit herauszubekommen wie möglich.
Ihr alle werdet verstehen, daß jedem Gerücht und jedem Geschwätz ruhig, aber mit Nachdruck, ein Riegel vorgeschoben werden muß, und zwar nicht nur der Schülerin und ihrer Familie wegen, sondern auch im Interesse des Theban. Natürlich werden die Leute euch nach ›der Leiche im Theban‹ ausfragen. Antwortet so knapp wie möglich und wechselt das Thema. Ich bitte euch alle: Benutzt dieses Ereignis nicht dazu, Aufmerksamkeit auf euch zu ziehen! Es kann oft passieren, daß man auf Kosten von Loyalität und Diskretion vorübergehend zum Mittelpunkt des Interesses wird, doch ich versichere euch, der Preis, den man dafür bezahlt, ist zu hoch. Darin werdet ihr mir sicherlich zustimmen. Das Theban und die betroffene Familie werden mit eurer Hilfe dieses traurige Ereignis leichter überwinden. Ich persönlich habe volles Vertrauen zu eurem Feingefühl und habe deshalb, vielen anderslautenden Ratschlägen zum Trotz, die Gelegenheit ergriffen, euch im Interesse der Schule ins Vertrauen zu ziehen und euch alle Informationen zukommen zu lassen, die ich, das Lehrerkollegium und die Treuhänder besitzen. Laßt uns nun zum Schluß den Choral ›0 God, Our Help in Ages Past‹ singen, und ich darf unsere Jüngsten daran erinnern, daß wir auf unseren Plätzen bleiben, bis das letzte Amen
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