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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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für die nächsten drei Jahre. Ich stellte dem Klassenleiter eine Doppelstunde meines Unterrichts zur Verfügung, um mit ihm und der Klasse gemeinsam die wichtigen Fragen zu besprechen und, wenn irgend möglich, zu einer Lösungsvereinbarung zu kommen.
    Ich war immer wieder erstaunt über die geringe Bereitschaft der Kollegen, Unterrichtszeit für die Lösung elementarer Probleme zu opfern. Die Vermittlung des Stoffes war den meisten wichtiger. Das kam mir so vor, als ob ein Psychoanalytiker psychische Störungen mit Verhaltensanweisungen behandelte, ohne sich um die wahre Motivation und Ursache der Störung zu kümmern. Man kommt in der Therapie anscheinend weiter, aber bei der nächsten Krise steht man vor demselben ungelösten Problem, weil man an den Symptomen und nicht an der Ursache kuriert hat. Erich Fromm gibt ein passendes Beispiel für solch einen Prozess, indem er beschreibt, wie ein junger Mann sich allein in ein Lokal begibt, die Speisekarte aufmerksam liest und, als der Kellner ihn nach der Bestellung fragt, antwortet: »Ich möchte nichts von alledem bestellen, weil mir nichts gefallen hat.« Bei seinem Besuch in diesem Lokal am nächsten Abend findet derselbe junge Mann sehr schnell das passende Gericht. Auf die Frage des Kellners, warum er am Vortag gesagt habe, keine von den angebotenen Speisen schmecke ihm, antwortet er: »Oh, das hier und auch noch andere Gerichte hätten mir gestern auch schon geschmeckt. Aber mein Psychiater hat mir geraten, so aufzutreten, damit ich es lerne, Nein zu sagen und mich durchzusetzen.« Der junge Mann sollte sein Verhalten mit dieser sinnlosen Übung ändern. Seine wahre Motivation, die Frage, warum er nicht Nein sagen konnte und warum es ihm so schwerfiel sich durchzusetzen, war vollkommen unwichtig. Unterricht als Wissensaneignung und -vermittlung isteine genauso sinnlose Übung, wenn man es mit Schülern zu tun hat, deren innerer Widerstand so groß ist, dass sie kaum etwas vom Gelernten behalten und behalten wollen. Die Ursachen dieser unbewussten Verweigerung zu eruieren, verdrängte Motive aufzuarbeiten, ist wesentlich produktiver, weil es der erste Schritt des Lernprozesses ist, bewusst und konsequent zu wollen, nicht zu müssen. Die geopferte Unterrichtszeit bekommt man mit Zins und Zinseszins zurück, wenn die hemmenden Faktoren erst einmal beseitigt sind. Und man hat es dann mit Schülern zu tun, die zu echter Zusammenarbeit fähig und gewillt sind, an der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und ihres aktiven Wissens zu arbeiten. Das ist eine große Erleichterung für jeden Lehrer; es ist einer der Schlüssel zum Erfolg und zum Stressabbau.
    In der erwähnten 11.   Klasse gelang es mir, den Klassenleiter für das Vorhaben zu gewinnen. Wir saßen in einer Runde zusammen und er begann mit der zuvor abgestimmten Eingangs- und Schlüsselfrage, warum es den Schülern so schwerfalle, ihr Leistungsniveau zu steigern und zur gegenseitigen Zufriedenheit mit den Lehrern zusammenzuarbeiten. Das war schon mal ein guter Einstieg. Einige Schüler meldeten sich und berichteten von ihren Problemen mit der Motivation, mit der Überwindung ihrer Bequemlichkeit und mit dem richtigen Zeit- und Arbeitsmanagement. Auch Konflikte mit einzelnen Kollegen, die sie von sich aus und bereitwillig benannten, kamen zur Sprache. Einige fühlten sich überfordert, andere hatten Schwierigkeiten, den Sinn bestimmter Maßnahmen zu begreifen (»Warum müssen wir in jeder Stunde Protokolle schreiben?«), wieder andere kritisierten den Umgangston einiger Kollegen. Diese erste Antwortrunde war vielversprechend. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass viele der Schüler sich in dieser Weise gleich zu Beginn des Gespräches öffnen würden. Ich freute mich darüber; vielleicht würde es leichter werden, als ich dachte.
    Als ich in die Runde blickte, hatte ich den Eindruck, dass auch die Schüler, die bisher nichts gesagt hatten, auftauen würden, wenn man ihnen Zeit ließ bzw. die richtigen Fragen stellte. Ich hielt mich zurück und wartete. Wenn sich keiner zu Wort meldete, konnten wir, mein Kollege und ich, gezielt Fragen stellen. Der Anfang war gemacht. Es meldeten sich noch einige, die dieErfahrungen ihrer Vorredner unterstrichen, ergänzten oder spezifizierten. Ich ließ die Antworten wirken und wartete darauf, dass der Klassenleiter nun Fragen stellte, um mehr über die Motivation und die Gründe seiner Schüler für ihr Verhalten zu erfahren. Fragen, die die Schüler veranlassen würden, ihre

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