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Schule versagt

Schule versagt

Titel: Schule versagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Faltin , Daniel Faltin
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Antworten und damit ihre Überlegungen zu unserem gemeinsamen Problem zu vertiefen. Aber er fragte nicht. Er stellte überhaupt keine einzige Frage. »Sehen Sie«, sagte er einleitend, »so sieht es also aus. Dann sollten Sie   …« Es folgten Verhaltensanweisungen über Verhaltensanweisungen: »Versuchen Sie doch mal   …«, »Machen Sie es doch so und so   …«, »Das Beste ist   …« usw. usw. Der Monolog dauerte sehr lange. Mir taten die Schüler leid. Sie hatten eine Aussprache erwartet und bekamen Anweisungen. Ihre Gesichter wurden von Minute zu Minute verschlossener. Ich selbst hatte Mühe, meinen Ärger zu unterdrücken, und wurde nervös. Mir schien, dass eines der Probleme dieser Schüler ihr eigener Klassenlehrer war. Nach einiger Zeit hielt ich es nicht mehr aus und tat, was die Schüler nicht wagten oder, vielleicht aus hinreichender Erfahrung, auch nicht mehr wollten: Ich unterbrach den Kollegen in seinem schier endlosen Redefluss. Ich entschuldigte mich für die Unterbrechung und regte an, weitere Fragen an die Schüler zu stellen und ihnen Gelegenheit zu geben, die Probleme aus ihrer Sicht zu analysieren. Er schwieg, widersprach aber nicht. So ergriff ich selbst die Initiative und stellte vertiefende Fragen: »Was meinen Sie genau damit, wenn Sie sagen, dass Sie von oben herab behandelt werden?«, »Wie äußert sich das Verhalten, das Sie als Diskriminierung empfinden?«, »Was ist dafür verantwortlich, dass Sie jeden Morgen verschlafen?«, »Wieso meinen Sie, dass Ihr Zeitmanagement nicht stimmt?«, »Welche Vorstellung verbinden Sie denn mit geglückter Zusammenarbeit und Kommunikation?«
    Erstaunlicherweise tauten die Schüler angesichts solcher Fragen schneller wieder auf, als ich es erwartet hatte. Einige von ihnen antworteten, die anderen hörten zu, ergänzten oder fragten ihrerseits nach. Die W-Fragen eignen sich gut, um tiefer in die Probleme einzudringen; so simpel sie erscheinen, auf den individuellen Einzelfall bezogen und mit echtem Interesse gestellt, öffnen sie Türen. An den von den Schülern genannten konkreten Beispielen entlang stellte ich tiefer gehende Fragen. »Was geschahdann?«, »Wie empfinden Sie diese Lehrerreaktion?«, »Wie bewerten Sie sie?«, »Wie möchten Sie das ändern?«, »Was können Sie aktiv dafür tun?«, »Was können wir als Lehrer bzw. Sie und wir gemeinsam tun?« u.   ä. Das sind Fragen, die zum Kern des Problems und zu möglichen Lösungsansätzen führen können. Ich schreibe bewusst: können, denn die Voraussetzung für das Gelingen dieses Kommunikationsprozesses ist, dass beide, Erzählende(r) und Zuhörende(r) vollkommen konzentriert bei der Sache sind. Die Voraussetzung dafür wiederum ist Interesse, das sich sowohl auf die Erfassung und Lösung des Problems als auch auf das jeweilige Gegenüber bezieht. Ein rein akademisches Interesse genügt nicht. Zuhören, wirkliches Zuhören, ist eine Kunst, die in unseren Schulen nur sehr selten beherrscht und vorgelebt wird. Es bedeutet, die Welt für den Zeitraum dieses Gesprächs mit den Augen des anderen zu sehen. Es bedeutet nicht, dass man mit dem Gesprächspartner übereinstimmen muss.
    Während ich noch an den Antworten der Schüler entlang dachte, um sie zum Kern ihrer Probleme zu bringen, schaltete sich der Klassenleiter wieder ein. Während unserer gesamten zweiten Fragerunde war er unruhig auf seinem Sitz hin und her gerutscht, hatte auch dann und wann versucht, etwas zu sagen, aber ich wollte den Prozess, der gut voranschritt, nicht unterbrechen lassen und erteilte immer wieder Schülern das Wort. Jetzt ließ er sich nicht mehr davon abhalten zu reden   – und er machte einige der schlimmen Fehler, die man bei einem Kommunikationsprozess machen kann. Der folgende Monolog war wertend und beratend, ohne wirkliches Verständnis der Problemzusammenhänge. Seine Sätze begannen mit »Sie haben nicht verstanden, dass   …«, »Das muss man so sehen   …«, »Versuchen Sie doch mal, es so zu machen   …«, »Sie sollten unbedingt   …«. Mir war unbehaglich, denn ich beobachtete die Gesichter der Schüler, die offen und interessiert gewesen waren und sah, dass sie sich nun wieder mehr und mehr verschlossen. Ihre Körpersprache sagte dasselbe; fest geschlossene Münder, abgewandte Blicke, hängende oder vor der Brust verschränkte Arme, enttäuschte Gesichter. Der Klassenleiter schien das nicht zu merken. Er monologisierte mit unbekümmertem Unverständnis vor sich hin und wollte wohl

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