Schulterwurf
Rechnungen entdeckt, die wohl mal
durch den Briefkastenschlitz in den Flur geworfen worden waren. Ilka hob einen der Briefe auf und las vor, an wen er adressiert
war: »Gustav Bruhn – den gleichen Namen haben wir doch vorhin auf dem Holzkreuz gelesen!«
Gustav Bruhn war tot? Aber irgendjemand hatte ihn doch beerdigt. Wieso hatte sich dieser Jemand nicht um das Haus gekümmert?
Wieso schickte man dem Toten noch Rechnungen?
Ilka, Michael und Jabali konnten sich keinen Reim auf das machen, was sie gefunden hatten.
»Erst mal raus hier«, schlug Michael erneut vor. »Ich muss mich sonst gleich übergeben bei dem Gestank.«
Jabali schaute ängstlich aus dem Fenster. Der Hund schnüffelte noch immer an der Mülltonne herum.
»Ich gehe vor und lenke ihn ab«, versprach Ilka. »Und ihr gebt Dampf.«
So schnell sie konnten, liefen sie ins Freie. Der Hund hob kurz den Kopf, wollte den Kindern hinterherlaufen, doch Ilka befahl
ihm: »Such! Such das Stöckchen!«
Sofort machte der Hund sich wieder an die Arbeit und die Kinder konnten unbemerkt verschwinden.
Als Ilka, Michael und Jabali in der Schule ankamen, waren auch Linh und Lennart schon da.
»Und?«, fragte Michael.
»Wir haben gewonnen!«, berichtete Lennart.
Michael wusste erst gar nicht, wovon Lennart sprach, bis der ihn an den Judowettkampf erinnerte. Michael schlug sich vor die
Stirn. Er und auch Ilka und Jabali hatten tatsächlich nicht mehr an denlaufenden Wettkampf gedacht, der am Morgen noch so wichtig gewesen war.
»Ach so, ja. Schön«, kommentierte Michael nur. Aber seine Gedanken waren, wie die der anderen, bei Yamada Yuuto. »Wo ist er?«
»Dort!«, zeigte Linh.
Der Großmeister saß im Foyer in einer Ecke und sah sehr niedergeschlagen aus.
Versehentlich stieß Linh gegen Michaels Bein.
»Autsch!«, schrie er kurz auf und zuckte zusammen.
Linh schaute ihn verwundert an und entdeckte dann seine Schürfwunden.
»Oje, was ist denn mit deinem Bein los?«, fragte sie.
Michaels Schürfwunde blutete und sah wirklich gar nicht gut aus.
»Wie ist das denn passiert?«
Während Michael ihr erzählte, was sie erlebt hatten, rannte Ilka los, besorgte Salbe und Verband aus dem Hausmeisterbüro,
und war gerade zurück, als Michael seine Erzählung beendete. Ausgerechnet heute hatte sie in der Aufregung ihr Notfalltäschchen
vergessen, das sie sonst immer um die Hüfte gebunden hatte.
»Und bei euch?«, fragte Michael, während Ilka begann, sich um seine Verletzung zu kümmern: mit desinfizierender Salbe, einer
Wundauflage und einem Spezialverband, den sie gekonnt um sein Bein wickelte. Sie stellte damit wieder mal ihre Fähigkeiten
als Rettungshelferin unter Beweis. Sie kannte die wichtigsten Handgriffe für viele Notfälle. Und Michaels Wunde war zumindest
ein kleiner Notfall.
Linh erzählte, dass Yamada Yuuto von dem Haus direkt zu einer nahe gelegenen Bank und von dort in eine Bibliothek gegangen
war. Was er dort jeweils genau getan hatte, konnten sie nicht sagen.
In der Bank hatte er mit einem Angestellten gesprochen, das hatten sie noch gesehen. Dann war er mit dem Bankangestellten
über eine Treppe ins Kellergeschoss verschwunden und kurz darauf wieder aufgetaucht. Soweit Lennart wusste, befanden sich
in den Kellergeschossen der Banken meistens die Schließfächer, in denen Bankkunden wertvolle Dinge aufbewahren konnten. Aber
wie konnte Yamada Yuuto hier in einer Bank ein Schließfach haben?
Ähnlich mysteriös hatte er sich in der Bibliothek verhalten. Kaum hineingegangen, war er auch schon wieder herausgekommen.
Ohne ein Buch inder Hand. Dann war der Großmeister zur Schule zurückgekehrt.
Jabali schaute hinüber zu Yamada Yuuto. »Der sieht wirklich mies aus«, fand er.
Ilka stimmte ihm zu. »Warum fragst du ihn nicht, was los ist?«, schlug sie Linh vor. »Du kannst dich doch als Betreuerin erkundigen,
wie es deinem Gast geht.«
Linh nickte. Zögerlich ging sie auf den Großmeister zu. Er wirkte ungewohnt zerstreut. Wo war er bloß in seinen Gedanken?
Linh traute sich und fragte: »Geht es Ihnen gut?«
»Ja.«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Nein.«
»Wie fühlen Sie sich bei uns?«
»Gut.«
Drei Antworten auf ihre Fragen, wie sie knapper nicht sein konnten. Linh fand sein Verhalten unheimlich.
»Wirklich, alles okay?«, hakte sie noch mal nach.
»Jaja, danke, es geht mir gut. Eure Stadt ist schön, eure Schule auch. Bleibt es bei dem bisherigen Plan für morgen?«
Linh
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