Schusslinie
weder Zeit noch Ressourcen, um
jemanden nach Berlin zu schicken.« Eine kurze Pause trat ein, dann fuhr Beierlein
fort: »Und wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Versuchen Sie, diesen Häberle
zu zügeln. Sie würden sich lächerlich machen. Bei Ihnen in Göppingen – aber das
würde niemanden interessieren – und in der politischen Szene, was viel wichtiger
ist. Denken Sie dran, dass in zehn Wochen Bundestagswahl ist.«
Bruhn nickte. »Danke. Ich wünsche einen schönen
Tag.«
Der oberste Kripochef legte auf und holte aus
seiner linken Schreibtisch-Schublade ein Formular, mit dem Dienstreisen beantragt
werden mussten. Zwei Dinge hatten ihn dazu bewogen, Häberle nach Berlin reisen zu
lassen: Erstens, die fundierte Begründung Häberles selbst. Und zweitens der dezente
Hinweis Beierleins, sich nicht lächerlich zu machen. Wenn ein Sportfunktionär großes
Interesse daran hatte, dass die Ermittlungen nicht auch noch auf Berlin ausgedehnt
wurden, dann musste er dafür gute Gründe haben. Außerdem wäre es zum gegenwärtigen
Zeitpunkt töricht, sich nicht nach außen hin zu präsentieren. Er wollte sich nicht
des Vorwurfs ausgesetzt sehen, viel zu wenig unternommen zu haben. Seine Entschlussfreudigkeit
kannte nun keine Grenzen mehr – jetzt musste etwas geschehen. Er war sich bei genauem
Nachdenken ziemlich sicher, dass in diesem Fall niemand im Stuttgarter Präsidium
oder Innenministerium nach den Kosten fragen würde. Es sei denn, ihn überkamen für
einen Augenblick Zweifel, es sei denn, manchen Herrschaften kamen die Ermittlungen
ungelegen.
Häberle war in seinen Schreibtischsessel gesunken, Linkohr saß ihm
schweigend gegenüber. Vom Lehrsaal drangen laute Stimmen der Kollegen herüber.
»Furchtbar«, meinte Linkohr mit gedämpfter
Stimme.
»Wir hätten’s verhindern können«, nickte Häberle
betroffen. »Aber wir haben die falsche Betrachtungsweise gehabt. Wir haben sie als
Täterin gesehen – und nicht dran gedacht, dass sie Opfer sein könnte.«
Man hatte an diesem Donnerstagmorgen Anna tot
in der Tiefgarage ihres Wohnblocks aufgefunden. Erwürgt. Ein Hausbewohner hatte
sie entdeckt, als er zu seinem Wagen ging, um zur Arbeit zu fahren. Das Mädchen
lag in einer Nische, die von Betonstützen umgeben war. Ersten Erkenntnissen der
Spurensicherung zufolge hatte es einen Kampf gegeben. Annas kurzer Rock war zerrissen.
Ob ein Sexualdelikt vorlag, würden erst die weiteren Untersuchungen und Analysen
ergeben. Häberle und Linkohr standen jetzt für einen Moment wortlos vor der Toten.
Die Tiefgarage war in grelles Halogenlicht der Polizeischeinwerfer gehüllt. Experten
der Spurensicherung nahmen in ihren weißen Schutzanzügen jeden Zentimeter unter
die Lupe.
»Ihre Wohnung ist aufgebrochen worden«, erklärte
einer der Kriminalisten, »ein heilloses Chaos. Wir gehen davon aus, dass sie spätnachts
heimgekommen ist und hier beim Aussteigen aus dem Auto abgepasst wurde.«
Ein Mann im weißen Schutzanzug näherte sich
Häberle und hielt ihm ein kleines, gläsernes Behältnis vor. »Haben wir gefunden«,
sagte der Spurensicherer mit gewissem Stolz in der Stimme. »Lag bei der Leiche.«
Häberle nahm das Gläschen und führte es dicht
vor die Augen, Linkohr kam ebenfalls näher. »Was ist da drin?«, fragte der Kommissar.
»Eine Linse«, erklärte der Angesprochene, »eine
Kontaktlinse.«
»Von ihr?«
»Wir wissen es noch nicht. Das werden erst
die in Ulm feststellen können.« Gemeint war die Gerichtsmedizin.
Häberle wandte sich an einen anderen Mitarbeiter:
»Wir müssen ihre Wohnung bis ins letzte Detail durchsuchen. Alles, jedes einzelne
Stück Papier. Und wir müssen rauskriegen, mit wem sie zuletzt zusammen war. Mit
wem und wo.« Es klang gereizt. Häberle erschrak selbst über diesen Unterton, den
er bei anderen so sehr hasste.
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»Die Siller gebärdet sich wie eine Furie«, berichtete ein Kriminalist,
als er nachmittags in Häberles Büro kam. »Sie hat rumgebrüllt und getobt, wie ich
das selten bei einer Frau erlebt hab.«
Der Kommissar bot dem Kollegen einen Platz
an. »War’s wenigstens ergiebig?«, fragte er ruhig nach. »Nichts Erkennbares«, erwiderte
der Mann, der übernächtigt wirkte, »sie kenne natürlich die Zahlenkombination dieses
Tresors, sei aber seit Nullenbruchs plötzlichem Verschwinden nicht dran gewesen.«
Häberle kniff die Augen zusammen. »Und das
kann man glauben? Ich denke, da waren wichtige Geschäftspapiere drin?«
»Wichtig schon, sagt sie,
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