Schusslinie
aber keine, die beim
täglichen Betrieb gebraucht werden«, entgegnete der Kriminalist. »Interessant ist
eher, wie sie den Kontakt zu diesem Gangolf schildert, ihrem ›Ex‹. Noch als sie
zusammen waren, hat sich zwischen ihrem damaligen Mann und Nullenbruch so etwas
wie eine Freundschaft entwickelt. Eine Fußball-Freundschaft offenbar.«
»Ach …?«, wurde Häberle hellhörig, »… das ist interessant.«
»Ja«, der Kriminalist lehnte sich zurück und
holte tief Luft, »aber was genau die beiden Männer jetzt noch verbindet, will sie
nicht wissen. Für sie sei der Harald – so heißt ihr Ex – gestorben, seit er sich
›ein junges Ding‹, wie sie sagt, ›beschafft‹ habe.«
Häberle kannte solche Beziehungs- und Ehekrisen:
»Eine tief verletzte Frau. Das hab ich mir so gedacht. Deshalb der abgrundtiefe
Hass gegenüber dem anderen ›jungen Ding‹.«
»Sie denken, dass sie …?«
Häberle zuckte mit den Schultern und schüttelte
gleichzeitig den Kopf. »Kollege, in diesem Fall halte ich nichts mehr für unmöglich.«
In diesem Moment erschien Linkohr an der offenen
Tür. »Ein erstes Ergebnis der Gerichtsmedizin.«
Häberle blickte auf, sein Gesprächspartner
drehte sich um.
»Die Kontaktlinse könnte von unserem Täter
stammen«, berichtete der Jungkriminalist triumphierend. »Anna jedenfalls hat keine
getragen.«
»Uii«, entfuhr es Häberle, »sehen die Medizinmänner
eine Chance, DNA sicherzustellen?«
Linkohr zuckte mit den Schultern. »Sie probieren’s.«
Der junge Kriminalist entfernte sich wieder,
worauf Häberle sich erneut dem anderen Kollegen zuwandte. »Noch was. Hat schon jemand
mit Frau Nullenbruch gesprochen?«
»Wollte ich ihnen gerade berichten«, entgegnete
sein Gegenüber, »sie sagt, sie komme so gut wie nie in die Firma – und das wird auch von einigen Mitarbeitern
bestätigt. Sie sei mindestens seit Weihnachten nicht mehr hier gewesen.«
»Und ihre Anweisungen – wie werden die übermittelt?«,
wollte Häberle wissen, schließlich hatte Frau Nullenbruch erst kürzlich Ute Siller
zur Chefin gemacht.
»Sie bestellt die Führungskräfte zu sich nach
Hause!«
Seit vier Tagen war Klinsmann verschwunden. Und seit vier Tagen glich
die Innenstadt Geislingens einem Medienlager. Auch wenn kaum noch jemand im Ernst
daran glaubte, dass der Bundestrainer in dieser Kleinstadt festgehalten wurde, so
blieben doch die Journalisten und Aufnahmeteams am Ort des Geschehens. Für den heutigen
Freitag hatte sich mal wieder der Chef der Ulmer Staatsanwaltschaft, Dr. Wolfgang
Ziegler, angesagt, um noch vor dem Wochenende ein Statement abzugeben.
›Spiegel‹, ›Focus‹, ›Stern‹ und alle überregionalen
Zeitungen hatten Korrespondenten entsandt, um ein Stimmungsbild von dieser Stadt
zu zeichnen. Oberbürgermeister Hartmut Schönmann hatte die Gelegenheit wahrgenommen,
den Medienvertretern die Gegend schmackhaft zu machen und auf die neuen Gewerbegebiete
hinzuweisen.
Häberle war mit der ersten Frühmaschine von
Stuttgart nach Berlin geflogen. Langsam, das spürte er, kam er an die Grenzen seiner
physischen und psychischen Leistungsfähigkeit. Er war im Flugzeug noch vor dem Start
sofort eingeschlafen und erst wieder nach einer Dreiviertelstunde erwacht, als die
Maschine bereits auf Tegel zuschwebte. Zwei uniformierte Beamte holten ihn, wie
vereinbart, am Ausgang ab und brachten ihn mit Martinshorn und Blaulicht zum Wirtschaftsministerium.
Gangolf war gestern von Häberles Ankündigung, ein persönliches Gespräch führen zu
wollen, nicht sehr erbaut gewesen. Doch angesichts der Tragweite des Falles, um
den es ging, hatte auch der Herr Ministerialdirektor es nicht gewagt, dem Kommissar
eine Absage zu erteilen. Eine Chance, das wusste Gangolf, hätte er ohnehin nicht
gehabt.
Häberle genoss die Fahrt durch die Stadt, wechselte
einige freundliche Worte mit den Kollegen, deren ›Berliner Schnauze‹ ihm ausgesprochen
gut gefiel, und ließ sich einige Sehenswürdigkeiten erklären. Der Kommissar war
seit der Wende bisher nur ein einziges Mal hier gewesen, aber auch das lag schon
Jahre zurück. Damals hatten sie gerade am Potsdamer Platz erst zu bauen begonnen
und heftig mit dem Grundwasser gekämpft.
Gangolfs hohe Stirn lag in Falten, als er dem
Besucher auf einer grauen Ledercouch einen Platz anbot. Das Büro war so groß wie
in der Provinz ein Gemeindesaal, dachte Häberle und staunte insgeheim über die feudale
Einrichtung. Alles vom Feinsten. »Freut mich, Sie zu sehen«,
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