Schusslinie
jetzt sage, dass sie tot
ist? Umgebracht. Gestern Nacht«, konterte Häberle.
»Umgebracht?«, wiederholte der Mann ungläubig,
»die Anna?«
»Leider, ja und man hat etwas bei ihr gesucht.«
»Gesucht? Und hat man denn gefunden, was man
gesucht hat?«
»Keine Ahnung.«
»Und wonach hat man gesucht?«
»Ich kann nur vermuten«, entgegnete Häberle
ruhig, »das Einzige, wonach wir von Anfang an eigentlich suchen, ist Lanskis Aktenkoffer.
Inzwischen neige ich sogar dazu, zu glauben, dass sie ihn möglicherweise hatte.«
»Das kleine Luder?«, staunte der Politiker,
»trauen Sie ihr zu, dass sie den Lanski erschossen hat?«
»Es gibt ein paar Indizien, die darauf hindeuten«,
bestätigte Häberle. »Angenommen, sie hat’s getan, denn im Umgang mit Waffen war
sie nicht ganz ungeübt, dann müsste sie den Koffer gehabt haben. Und wenn sie nun
deshalb umgebracht wurde, weil sie diesen Koffer oder eher wohl dessen Inhalt hatte,
dann stellt sich natürlich sofort die Frage, um was für brisante Dokumente es sich
handelt«
Gangolf hatte aufmerksam zugehört. Dieser Kommissar
verstand sein Handwerk, dachte er bei sich und schwieg.
»Wenn es wichtige Dokumente gibt, dann hat
sie Lanski von seiner Sitzung aus Stuttgart mitgebracht«, machte Häberle weiter,
»und dann stellt sich die Frage – wenn ich das mal so sagen darf – inwieweit auch
Herr Beierlein involviert ist.«
»Sie wollen aber nicht im Ernst behaupten,
einer von uns habe in irgendeiner Weise etwas mit dieser Sache zu tun?«
»Es ist nur so eine Überlegung, weiter nichts«,
blieb Häberle gelassen, »aber dass Dokumente fehlen … das könnte Sie doch auch beunruhigen?«
»Wenn Dokumente abhanden kommen, ist das immer
ein Grund zur Beunruhigung, Herr Häberle. Das sollten Sie wissen.«
62
Nur ein paar hundert Meter vom Wirtschaftsministerium entfernt, in
dem futuristischen Gebäude des Bundeskanzleramts, hatte ein dickes Kuvert für Aufregung
gesorgt. Anonym abgeschickt war es an den Bundeskanzler persönlich adressiert gewesen
und innerhalb des Hauses auf dem üblichen Weg geöffnet worden, der bei Sendungen
dieser Art aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben war.
Der zuständige Mitarbeiter, der die Kanzler-Post
sichtete, sortierte und je nach Dringlichkeit weiterleitete, hatte auf den ersten
Blick gar nichts damit anfangen können und geglaubt, es sei einer jener vielen Briefe,
die tagtäglich aus der ganzen Republik eintrafen, und mit denen allerlei Spinner
und Verrückte glaubten, Einfluss auf die Regierung nehmen zu können. Der Mann blätterte
die aneinander gehefteten DIN-A-4-Blätter durch, erkannte Tabellen und Namen, Adressen
und Telefonnummern überwiegend aus dem Ausland. Erst jetzt fiel ihm ein handgeschriebener
Zettel auf, der von einem großen karierten Schreibblock abgerissen worden zu sein
schien.
»Herr Bundeskanzler«, stand da in großen Druckbuchstaben
zu lesen, »das sind nur Kopien. Originale vor 18. September an Öffentlichkeit, wenn
nicht bezahlen fünf Millionen Euro. Sie wissen, wohin.«
Dem Kanzleramts-Mitarbeiter stockte der Atem.
Ein Erpresserbrief? 18. September? Das war der Termin für die vorgezogenen Neuwahlen.
Der Beamte, ein älterer, erfahrener Mann, den
so schnell nichts erschüttern konnte, hatte pflichtgemäß Schröder verständigen lassen,
dem jedoch an diesem Nachmittag andere Dinge wichtiger waren. Offenbar konnte er
mit den aufgelisteten Namen und dem Hinweis auf fünf Millionen Euro nichts anfangen.
Der Brief wurde zuständigkeitshalber an den
Sicherheitsdienst weitergeleitet, der den Inhalt analysieren sollte. Einer der Beamten
gab einen der aufgelisteten Namen in die Internet-Suchmaschine »Google« ein – und
erzielte damit auf Anhieb mehrere Dutzend Treffer. Es handelte sich offenbar um
einen bekannten Fußballschiedsrichter in Mexiko. Ein Sportler. Auch der zweite Name
erbrachte Ähnliches: Ein Schiedsrichter aus Argentinien – ebenfalls ein Prominenter.
Der Beamte tippte nacheinander viele der Namen ein und bekam jedes Mal zahlreiche
Treffer – stets mit dem Hinweis, dass es sich um Schiedsrichter handele. Und alle,
das stellte er rasch fest, hatten eines gemeinsam: Sie waren für die Fußballweltmeisterschaft
im nächsten Jahr nominiert worden. Als der Kanzleramts-Sicherheitsdienstler einen
weiteren Namen eingab, verengte er beim Lesen des ersten Treffers die Augenbrauen.
Auch dies war ein Schiedsrichter, wohnhaft in Chile – doch in der Nacht zum 28.
Juni, so stand da zu lesen, sei
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