Schusslinie
eine schallende Ohrfeige verpasst. Doch so sehr
sie jetzt auch die Beherrschung verloren hatte – so weit wollte sie nicht gehen.
Das wäre gefährlich und fatal. Sie wusste ohnehin, dass allein ihre Autorität und
die Art, wie sie mit diesem Mädchen umsprang, ihm genügend Respekt einflößte. »Hier
werden also die ›Dates‹ für die Nacht arrangiert – um auf angenehme Weise Geld zu
verdienen. Pennen und ausruhen – und das gegen Bezahlung – kannst du ja hier bei
mir«, tobte die Frau. »Aber heut nicht«, fügte sie zischend hinzu, »du wirst hier
drin bleiben, bis die Briefe geschrieben und alles – ich sage: alles – fein säuberlich
aufgearbeitet ist. Den Schreibtisch will ich leer sehen. Und morgen wird hier kein
privates Handy mehr in die Hand genommen. Keines. Hast du das kapiert?«
Anna nickte schnell und zitterte.
»Na dann – steh nicht so dumm rum. Oder willst
du, dass ich nachher die Putzfrau heimschicke und dich auch noch die Klos putzen
lasse?« Ute Siller machte kehrt, verschwand in ihrem Büro und schmetterte die Tür
zu.
14
Kommissar Häberle seufzte in sich hinein. Er würde seiner Frau wieder
einmal schonend beibringen, dass die geplante Grillparty am bevorstehenden Sommer-Wochenende
ohne ihn stattfinden musste. Der Mordfall würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Auch sein junger Kollege Linkohr hatte seine Freundin Juliane, eine Krankenschwester,
bereits auf die Überstunden vorbereitet. Er empfand es als wahren Glücksfall, dass
seine bessere Hälfte Verständnis für seinen Job aufbrachte, schließlich war sie
selbst in ihrem Beruf in den Schichtdienst eingebunden und wusste, was es bedeutete,
unvorhergesehene Fälle bearbeiten zu müssen.
Die Kollegen der Sonderkommission waren inzwischen
ausgeschwärmt, um in den Vereinsheimen des Eybacher Tals nach einer Spur des unbekannten
Toten zu fahnden. Jetzt, am frühen Abend, begannen sich die Clubhäuser und Sportanlagen
langsam mit Leben zu füllen – beim Tennisverein, beim Sportclub, bei der Turngemeinde
und beim Reitverein. Überall sollten Wirte, Trainer, Übungsleiter, aber auch ganz
normale Gäste, befragt werden, ob sie gestern ab 19.30 Uhr einen Mann beobachtet
oder getroffen haben, der möglicherweise das spätere Mordopfer geworden war.
»Einer mit Aktenkoffer muss doch in diesem
Umfeld aufgefallen sein«, hatte Häberle überlegt. Gleichzeitig allerdings war er
beim Blick auf den großflächigen Stadtplan auf einige Häuser gestoßen, die in unmittelbarer
Nähe standen: Jene Siedlung entlang der alten Landstraße – und das Gebäude einer
Pumpstation der Schwäbischen-Alb-Wasserversorgungsgruppe. Außerdem gab es dort noch
ein großes Umspannwerk des örtlichen Stromunternehmens ›Albwerk‹.
»Wir müssen alles unter die Lupe nehmen – auch
diesen leer stehenden Komplex des Bauunternehmens«, schlug der Kommissar vor, »irgendein
Ziel muss der Mann gehabt haben.« Derzeit durchkämmte eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei
die Umgebung des Tatorts – den Bahndamm, die bewachsenen Böschungen und einen Trampelpfad,
der entlang der Bahnlinie ins angrenzende Längental führte. Bruhn hatte auf diese
Aktion bestanden, um vielleicht doch noch etwas Verwertbares zu finden, möglicherweise
sogar die Tatwaffe. Denn es kam erfahrungsgemäß nicht selten vor, dass sie der Täter
während der Flucht sofort wegwarf. Es sei denn, er war ein Profi.
Die Vernehmung des Taxifahrers und die Beschreibung,
die er von der Kleidung seines Fahrgastes geben konnte, hatte inzwischen die Vermutung
untermauert, dass es sich um das spätere Mordopfer gehandelt haben musste. Der Mann
war auch, daran konnte sich der Chauffeur ebenfalls entsinnen, allein aus der Bahnhofsunterführung
gekommen und zielstrebig zum Taxistand geeilt. Häberle las diesen Vernehmungsbericht
am Bildschirm, als ihn die elektronischen Töne des Telefons störten. Es war die
Zentrale, die ein Gespräch für den Leiter der Sonderkommission durchstellte.
Häberle meldete sich und blickte auf ein altes
Fahndungsplakat, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Der Anrufer stellte sich
als der Inhaber des Hotels Krone vor. Er habe soeben in den 18-Uhr-Nachrichten von
»radio 7« den Zeugenaufruf der Polizei gehört und sei stutzig geworden, berichtete
er. »Bei uns hat gestern telefonisch ein Mann ein Zimmer reserviert – und ist dann
nicht gekommen. Wir haben lange auf ihn gewartet, denn er hat gesagt, es werde später.
Doch bis jetzt hat er sich nicht
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