Schusslinie
nachtschwarzen Öffnung zur zweiten Etage,
hatte er ein Geräusch gehört, nur ganz leise, aber so, als ob Kleiderstoffe aneinander
rieben. Das konnte nur eines bedeuten, schlug sein Gehirn Alarm: Jemand schleicht
durch den Flur und lauert auf mich. Obwohl er die geöffnete Tür im Auge behalten
wollte, drehte er den Kopf langsam nach rechts oben, wo ihn die dünnen, im Halogenlicht
glänzenden Stäbe des Geländers blendeten und den Blick auf die schwarze Öffnung
zum Flur erschwerten. Nullenbruchs Atem wurde flach, obwohl gleichzeitig sein Puls
zu rasen begann. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seine Augen blitzartig mal nach
links unten zu dieser Tür, dann wieder nach rechts oben zucken. Was sollte er tun?
Schreien? In die Offensive gehen? Flüchten – wohin? Tausend Fragen in einer einzigen
Sekunde. Hatte er sich selbst in einen Hinterhalt gelockt? Ihn beschlich das ungute
Gefühl, von zwei Seiten beobachtet zu werden.
17
Beierlein hatte einige Minuten gebraucht, bis er das Telefonat mit
diesem Kriminalisten verdauen und den Inhalt seiner Frau erzählen konnte. Er schenkte
sich noch einen Trollinger ein und spürte, wie seine Hand zitterte. »Wieso tut der
das?«, fragte er zum wiederholten Male und meinte damit Lanskis Zimmerbuchung auf
seinen Namen. Die Frau zuckte ebenso ratlos mit den Schultern.
Er schaute auf die Armbanduhr. Wenn dieser
Kommissar schnell fuhr, würde er in einer Stunde hier sein. »Ich muss Harald Bescheid
sagen«, entschied er, griff zum Mobilteil des Telefons und drückte die Kurzwahltaste.
Es war Gangolfs Handy. Dieser meldete sich bereits nach dem dritten Rufton und zeigte
sich überrascht, als er Beierleins Stimme hörte.
»Entschuldige«, begann der Stuttgarter, »aber
Lanski ist wahrscheinlich tot.«
Die Leitung blieb für ein paar Sekunden stumm.
Der Angerufene schien den Satz erst mal verdauen zu müssen. »Sag das noch mal«,
kam es zurück.
Doch Beierlein wollte sich nicht mit Wiederholungen
aufhalten. »Es kommt noch schlimmer«, fuhr er fort, »er hat sich in einem Hotel
unter meinem Namen eingemietet –
unter meinem Namen. Weißt du, was das bedeutet? Die Polizei ist bereits im Anmarsch.«
Wieder gab es eine Pause, während Gangolf nachzudenken
schien. »Wo ist das passiert?«
»In Geislingen – 60 Kilometer von hier, Richtung
Ulm. Wirst du nicht kennen. So eine Kleinstadt an der Schwäbischen Alb«, gab Beierlein
zurück.
»Geislingen?«, wiederholte die Stimme im Telefon,
»was hat er denn damit zu tun? Ich dachte, er war bei euch in Stuttgart.«
Beierlein nickte. »War er auch. Aber dass er
noch immer einen Bezug nach Geislingen hat, wissen wir. Er kommt von dort, hat beim
Sportclub mal gekickt und wohl noch genügend Freunde dort.«
»Sportclub? SC Geislingen?«, staunte Gangolf,
»ist das dieser Verein, bei dem auch Klinsmann als Bub mal gespielt hat?«
»Richtig«, bestätigte Beierlein, »vier Jahre
– von vierundsiebzig bis achtundsiebzig, im zarten Alter von zehn bis vierzehn.«
Als schwäbischer Fußballfunktionär hatte er sich die Daten des prominentesten Kickers
gemerkt – und darauf war er stolz.
»Die kennen sich – Klinsmann und Lanski?«,
hakte der Berliner nach.
»Natürlich. Ich frag mich nur, was den Lanski
geritten hat, meinen Namen ins Spiel zu bringen.« Beierlein spürte, wie sich die
innere Unruhe verstärkte. Seine Frau trank einen Schluck Rotwein.
»Und den Nullenbruch? Kennt Lanski ihn auch?«,
erkundigte sich der Ministerialdirektor vorsichtig.
»Keine Ahnung – wieso fragst du?«
Gangolf wählte die Worte mit Bedacht: »Wir
haben nämlich noch ein Problem …«
Er rang nach einer Formulierung, entschied sich dann aber für eine klare Aussage,
mochte sie noch so schockierend sein: »Nullenbruch ist weg.«
Beierlein wurde kreidebleich.
Der Wirt der Geislinger Altstadt-Kneipe ›Clochard‹ war so, wie seine
Umgebung: Rustikal, hemdsärmlig, alternativ, die Haare streng nach hinten zu einem
Zopf gebunden. Seit Jahren stand er hinterm Tresen, in der allabendlichen Enge und
im Schummerlicht rauchgeschwängerter Luft, in einem Lärmpegel, der zu fortgeschrittener
Stunde immer lauter wurde. Das ›Clochard‹ galt seit Langem als Treffpunkt junger
Leute und solcher, die ihrem Alter wenigstens für ein paar Stunden entrinnen wollten.
Linkohr war mit seiner Freundin Juliane auch schon einige Male dort gewesen, doch
hatten sie dann festgestellt, dass die Musik viel zu laut war, um sich unterhalten
zu können. Wie damals,
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