Schwaben-Angst
Händen, flatterten durch die Luft, landeten auf dem nassen Wegrand. Voller Entsetzen starrte sie auf die im verkümmerten Gras des Weinbergs hingestreckte Gestalt, deren verkrümmte Körperhaltung und grimassenhaft verzerrten Gesichtszüge ihr unmissverständlich klarmachten: Vor ihr lag ein Toter.
Monique Gilbners schrille Schreie waren bis hinauf zur Grabkapelle und die Spitze des Württembergs zu hören.
2. Kapitel
Steffen Braig, Kommissar beim Stuttgarter Landeskriminalamt, war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen, als sein Handy läutete. Er hatte sein Büro an diesem Freitagnachmittag kurz nach 16 Uhr verlassen, war am Cannstatter Wilhelmsplatz noch in einem Supermarkt eingekehrt, um Lebensmittel für ein Wochenende mit seiner neuen Freundin zu besorgen.
Er hatte seinen Einkaufswagen dort höchst unwillig an den reichhaltig mit Weihnachtsartikeln bestückten Regalen vorbeigeschoben. Christstollen, Lebkuchen, Adventskalender, Nikoläuse in allen Größen und Variationen – jetzt, Anfang Oktober? Kopfschüttelnd hatte Braig das Sortiment passiert. Gerade waren die meisten Leute aus den Sommerferien zurückgekehrt, erwartete sie bereits das in grellen Farben präsentierte Angebot des in einigen Monaten anstehenden Festes. Gab es denn überhaupt keine Grenzen der Geschäftemacherei mehr?
Der Ärger über die weihnachtlich bestückten Regale hatte Braig fast die gesamte Heimfahrt begleitet. Erst beim Verlassen der S-Bahn am Feuersee schaffte er es, sich von seinem Unmut zu lösen und wieder zu dem Gefühl zurückzufinden, das ihn den ganzen Morgen begleitet hatte: die Vorfreude auf ein hoffentlich dienstfreies gemeinsames Wochenende mit Ann-Katrin Räuber: Freitagabend, Samstag und Sonntag – falls nicht wieder ein unvorhersehbares Ereignis, das seinen beruflichen Einsatz erforderte, dazwischen kam. Er hatte Wochenendbereitschaft, wusste, was ein Anruf auf seinem Handy bedeuten konnte.
Unangenehme Neuigkeiten vermutend, zog er es aus der Tasche, meldete sich.
Kriminalmeister Stöhrs Stimme verhieß nichts Gutes. »Sie müssen entschuldigen, wir haben einen seltsamen Todesfall.«
»Todesfall?« Braig reagierte gereizt. Freitagnachmittag, 17 Uhr. »Mord, ja?« Nur Stöhr war im Stande, sich so umständlich auszudrücken.
»Mord. Wie es aussieht, ja.«
»Wo?«
»Rotenberg. In der Nähe des Württembergs.«
Braig kannte den idyllisch mitten zwischen Weinbergen gelegenen Vorort Stuttgarts, hatte die Grabkapelle der Königin Katharina ein- oder zweimal besucht. Er ließ sich von Stöhr die genaue Lage des Fundorts des Toten beschreiben, bat den Kollegen, die Kriminaltechniker zu benachrichtigen und versprach, sofort nach Rotenberg aufzubrechen. Das erhoffte gemeinsame Wochenende war in weite Ferne gerückt.
»Herrn Söhnle habe ich ebenfalls informiert«, schloss Stöhr.
Braig packte die Lebensmittel bis auf die Bananen in den Kühlschrank, wählte Ann-Katrin Räubers Nummer. Er hatte sich mit der jungen Kollegin angefreundet, seit diese bei einem gemeinsamen Einsatz in Backnang im Frühjahr von einem Verbrecher niedergeschossen und schwer verwundet worden war. Braig, der sich lange für das Unglück Ann-Katrins mitverantwortlich gefühlt hatte, war regelmäßig im Krankenhaus bei ihr zu Besuch gewesen – ob mehr aus moralischer Verpflichtung für sein vermeintliches Versagen oder von Anfang an aus Interesse an der jungen Frau, wusste er im Nachhinein nicht zu beurteilen. Schon wenige Wochen später bei der Verlegung Ann-Katrins ins Ludwigsburger Klinikum war beiden klar gewesen, dass sich zwischen ihnen mehr entwickelt hatte als nur die Beziehung zwischen Kollegen.
Tag für Tag, soweit es ihm beruflich möglich war, hatte er sie besucht, sogar als sich ihr Genesungsprozess durch verschiedene Komplikationen immer mehr in die Länge zog. Eine der Kugeln hatte ihre Milz getroffen, worauf ihr das Organ mittels einer komplizierten Operation entfernt worden war. Später, nach langen Wochen vergeblichen Wartens auf durchgreifende gesundheitliche Besserung, hatte sich die Wunde bakteriell infiziert, was einen zweiten Eingriff erforderte. Die Kunst der Ärzte war damit jedoch immer noch nicht zu dem erwünschten Ziel gelangt.
Sechs Wochen Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik in Markgröningen hatten es Ann-Katrin Räuber zwar ermöglicht, fast normal aufrecht zu gehen, doch musste sie aufgrund der immer noch nicht völlig verheilten Wunde nach wie vor jede sportliche Betätigung und erst recht
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