Schwaben-Gier
Terminplaner weiter durch, stieß auf immer neue Reihen besuchter Ortschaften und Lokale. Ludwigsburg, Sindelfingen, Horb, Rottweil, Trossingen, Albstadt, Hechingen, Schwäbisch Gmünd, Crailsheim, Künzelsau. Plötzlich kam er auf eine Idee. War es möglich, dass Marianne Kindler die Lokale immer in einer bestimmten Reihenfolge besuchte? Er kämpfte sich durch die Sommermonate des Vorjahres, suchte nach den Gaststätten, die er im Dezember entdeckt hatte. Mittwoch, 18. August: Fünfzehn Uhr Stern in Auenwald, 15.30 Uhr Rössle in Baach, 16.30 Uhr Urban-Stuben in Stuttgart …
»Ihr Auto ist nicht da«, sagte Neundorf.
Braig schrak zusammen.
»Ein dunkelgrüner VW Passat Kombi, ältere Bauart. Sie fuhr gestern gegen elf Uhr damit aus dem Hof. Seither haben die beiden Männer den Wagen nicht mehr gesehen.«
»Wir müssen ihn zur Fahndung ausschreiben.«
»Ich bin schon dabei.« Neundorf tippte eine Ziffer in ihr Handy, gab das Kennzeichen und den Typ des Autos durch, erteilte dem Kollegen den Auftrag, das Fahrzeug suchen zu lassen. »Im Zusammenhang mit dem Mord an Marianne Kindler.« Sie trat an den Schreibtisch, warf einen Blick in den Terminplaner. »Du hast ein System ihrer Verkaufsfahrten entdeckt?«
Braig stöhnte leise auf, schüttelte den Kopf. »Ganz so einfach ist es wohl doch nicht«, antwortete er. »Dabei dachte ich schon, ich hätte ihre Strategie durchschaut.« Er deutete auf die Einträge. »Die ersten drei Lokale besuchte sie im August und im Dezember in derselben Reihenfolge. Damit hat es sich aber auch schon. Denn die Visiten, die anschließend folgen, sind völlig unterschiedlich. In ganz anderen Städten.«
»Wir nehmen die Kalender und die Disketten mit. Im Amt haben wir mehr Ruhe, sie genauer zu prüfen.«
Braig stimmte ihrem Vorschlag zu, räumte die Ordner zurück in die Regale, behielt die Terminplaner bei sich. »Diese Monika Heller sollten wir noch sprechen. Vielleicht weiß sie über Frau Kindlers gestrige Tour Bescheid.«
»Wie sieht es mit der Identifikation der Leiche aus? Müssen wir dem Mann das antun?«
Er hielt mitten in seiner Bewegung inne, musterte seine Kollegin. »Ich habe die Frau erkannt«, sagte er dann.
Neundorf nickte. »Ich auch. Die beiden Muttermale sind eindeutige Belege.«
»Dann ersparen wir es ihm.«
»Es ist besser so. Das können wir verantworten.«
Sie sahen die restlichen Papiere durch, verließen das Büro. Kindler und Luithardt schraubten im Produktionsraum an derselben Einfassung des großen Bottichs wie zuvor, erklärten ihnen nochmals den Weg zu ihrer Mitarbeiterin.
»Was soll i jetzt bloß mache?«, fragte Hermann Kindler. Seine Augen blickten verloren, ohne jede Hoffnung.
»Ihr Sohn«, schlug Braig vor, »wollen Sie nicht Ihren Sohn …«
Der Mann winkte mit seiner Rechten ab, bog den Kopf zur Seite, um den direkten Augenkontakt zu vermeiden. »Der macht mei Weib au nemme lebendig.« Er hatte Mühe, die Worte verständlich zu formulieren, klammerte sich mit beiden Händen am Gestänge des Bottichs fest.
»Vielleicht kann seine Anwesenheit Ihnen doch etwas Trost spenden.« Braig spürte selbst, wie übermäßig bemüht seine Worte klangen. Wie leere Floskeln, die ohnehin niemand nützen, nur die eigene Hilflosigkeit überspielen konnten.
Hermann Kindler schien das genauso zu empfinden. »Des hilft au nix mehr. Jetzt isch doch alles vorbei«, antwortete er, traurig den Kopf schüttelnd.
Ein im Kern seiner Existenz getroffener, geschlagener Mensch, ging es Braig durch den Sinn, als sie sich von den Männern verabschiedeten. Beide schienen in der kurzen Zeit ihres Besuches um Jahre gealtert.
Sie öffneten die Tür zum Verkaufsraum, passierten die Theke. Der Kommissar warf einen Blick auf die dort aufgehäuften Teigwaren, die er schon bei ihrer Ankunft bewundert hatte, überlegte, wie die jetzt alle unter die Leute gebracht werden sollten, wenn Marianne Kindlers Verkaufsaktivitäten nicht mehr zur Verfügung standen. Grüne, rote, braune Nudeln, Tiere, Bälle, Sterne, Kreuze, große und kleine Packungen – ein Sortiment, dessen kreative Formen und Vielfalt die besondere Liebe ihrer Schöpfer zu ihrem Beruf auszudrücken schien.
»Haben die jetzt überhaupt noch eine Chance?«, fragte er, als sie auf den Hof traten.
Der Klaus-Röder-Weg lag verloren in der schief am Horizont stehenden März-Sonne. Die Luft war klar und mild. Nichts deutete auf die Existenz der dicken Nebelbänke hin, die vor wenigen Stunden noch das gesamte Land in ihre
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