Schwaben-Gier
Herr …« Er verstummte mitten im Satz, weil der stämmige Mann hinter der Theke wie ein gesprengter Turm in sich zusammensackte und zu Boden ging, hörte Neundorfs Fluchen. Sich gegenseitig behindernd sprangen sie ihm zu Hilfe, Braig mit den Ellbogen einen der Nudelberge auf der Theke zur Seite wischend, wodurch mehrere Packungen auf den Boden fielen. Sie klopften dem nahezu Ohnmächtigen auf beide Wangen, bis er heftig nach Luft schnappte und wieder zu sich kam. Den Mann aufzurichten, erforderte Kraft und Geschick, bot der schmale Raum zwischen Theke und Wand doch gerade genug Platz für eine Person. Braig stützte sich auf der Platte ab, schob Kindler mühsam in die Höhe.
»Geht es wieder?«, fragte Neundorf. »Oder wollen Sie sich irgendwo hinlegen?«
Der Mann schaute sie aus weit aufgerissenen Augen an, schüttelte den Kopf. »Was, was isch passiert?«, stotterte er.
»Wir wissen es nicht«, antwortete Braig, »sie wurde in Heilbronn gefunden.«
Kindler zitterte am ganzen Leib. »In Heilbronn?«, wiederholte er. »Was will se denn dort?«
»Das hätten wir gerne von Ihnen erfahren.«
»Von mir?« Er schüttelte nur hilflos den Kopf, stützte sich auf der Theke ab.
Braig war sich darüber im Klaren, dass es keinen Sinn mehr hatte, den Mann noch länger in Beschlag zu nehmen. Kindler war zu erschöpft, zu sehr getroffen von der schrecklichen Nachricht, als dass er ihnen im Moment weiterhelfen konnte. Sie mussten ihn mit seiner Trauer allein, ihn den Schock überwinden lassen, bevor er wieder zu ernsthaft durchdachten Antworten fähig war.
Braig setzte gerade an, seine Überlegung mitzuteilen, als eine Maschine im Nachbarraum laut aufheulte. Sekunden später war das wütende Schreien einer tiefen Stimme zu hören, dann stürzte ein großer, mit einer blauen Latzhose bekleideter Mann Mitte fünfzig in den Raum, starrte aufgeregt Richtung Theke. Ohrenbetäubender Lärm übertönte sein Rufen, allein das heftige Gestikulieren machte deutlich, was er bezweckte. Kindler reagierte wie in Zeitlupe, setzte sich langsam in Bewegung, folgte seinem Mitarbeiter.
Braig und Neundorf warteten, bis das Heulen der Maschine wie ein abgeschalteter Staubsauger langsam verebbte, hörten die aufgeregten Worte des Arbeiters. »Des goht net mehr Chef, mir brauchet a neue Maschin, wie oft soll i des noch sage!«
Kindlers Antwort war nicht zu verstehen. Erst das laute Nachfragen des anderen ließ erkennen, was er ihm mitgeteilt hatte.
»Die Chefin?«, rief der Mann. »Unsere Chefin?«
Sie hörten die Männer miteinander diskutieren, Kindler in langsamer, gedehnter Sprache, den Arbeiter in kurzen, abgehackten Sätzen, sahen den Mann mit großen Schritten herauskommen.
»Was isch passiert?«, rief er laut. »Unsere Chefin isch tot?«
Neundorf sah keinen Grund, ihm die Auskunft zu verweigern, hatte er die Information doch gerade von Kindler selbst erhalten, bestätigte seine Vermutung. »Sie wurde heute Morgen tot gefunden, ja.«
»Um Gottes Willen.« Der Mann scheute sich nicht, seine Gefühle offen zu zeigen, beugte seinen Kopf nieder, vergrub sein Gesicht in den geöffneten Händen. Er schnaufte schwer, stampfte mit beiden Füßen kräftig auf den Boden, starrte sie aus Tränen verschleierten Augen an. »Des isch’s End«, sagte er dann, »jetzt könnet mir dichtmache. Unser Chef packt des net allein.«
»Er ist nicht so geschäftstüchtig wie seine Frau?«
»Des wollt i net sage«, rang sich der Mann schwerfällig zu einer Antwort durch, »er hat auch seine gute Seiten. Die Herstellung, also die Produktion, da isch er erschte Sahne. Aber was nützt des, wenn niemand da isch, der des Zeugs verkauft?« Er pendelte zwischen Dialekt und Hochsprache, benötigte Zeit, seine Sätze zu formulieren.
»Frau Kindler war«, Neundorf brach ab, korrigierte sich, obwohl es nichts zu korrigieren gab, »ich meine, Frau Kindler ist für den Verkauf zuständig?«
Der Arbeiter fuhr sich nervös durch seine schütteren Haare, schaute mal zu Neundorf, dann auf den Boden. »Die Chefin, ja.« Er verstummte für einen Moment, wies auf den Berg Nudeln, der sich vor ihnen auf der Theke erhob, nahm überrascht die Pakete wahr, die über den Boden verteilt lagen. »Ohne die Chefin wäret mir doch schon längscht am End.« Er bückte sich, suchte gemeinsam mit Braig alles zusammen, baute sie oben neben den anderen wieder auf. »Ihr hent mir unseren Arbeitsplatz zu verdanke.«
»Wie viele Beschäftigte hat die Firma?«
»Drei außer der Chefin
Weitere Kostenlose Bücher