Schwaben-Gier
feuchte Decke eingehüllt hatten. Neundorf sah über zaghaft knospenden Obstbäumen die Anhöhen des Schwäbischen Waldes. Eine Landschaft wie im Bilderbuch, fuhr es ihr durch den Kopf, doch dann erinnerte sie sich wieder des traurigen Anlasses, der sie hierher geführt hatte. »Ohne die Tote?«, nahm sie seinen Gedanken auf.
»Die Chefin«, ahmte er die Aussage Herbert Luithardts nach, »die den gesamten Betrieb managte, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Sie stimmte seiner Vermutung mit kommentarlosem Kopfnicken zu, ging langsam zu ihrem Dienstwagen. Er folgte ihr, wartete, bis sie ihm die Tür öffnete, nahm dann auf dem Beifahrersitz Platz.
»Er war es nicht«, sagte sie, »darauf würde ich schwören. Auch wenn vieles noch im Dunkeln liegt. Ich habe ihn genau beobachtet. Er ist kein Schauspieler. Die sind am Ende, beide.«
Braig nickte, sah keinen Anlass, ihr zu widersprechen. Die Betroffenheit Hermann Kindlers war echt, daran gab es für ihn keinen Zweifel. So wenig er bisher von den persönlichen Lebensumständen der Toten erfahren hatte, ihr Ehemann kam für ihn als Täter nicht infrage.
»Ich fürchte, es wird schwierig«, sagte sie, startete den Motor.
Sie folgten dem Weg dorfeinwärts, sahen das Schild, das die Tordis-Hoffmann-Straße ankündigte: Mit roten Ziegeln gedeckte spitzgieblige Einfamilienhäuser im Stil der 50er Jahre beidseits der Fahrbahn, durch Garagenanbauten und schmale Gartenparzellen voneinander abgegrenzt. Nach etwa hundertfünfzig Metern parkte Auto an Auto. Braig nahm überrascht die Leute wahr, die wartend auf dem schmalen Gehweg standen oder in einigen der Fahrzeuge saßen.
»Was ist da los?«, fragte er. »Das hat doch hoffentlich nicht mit unserem Mord zu tun?«
Neundorf starrte auf die seltsame Ansammlung, hatte auf der anderen Straßenseite die gesuchte Nummer entdeckt. Monika Heller wohnte in einem offensichtlich erst vor kurzer Zeit frisch gestrichenen zitronengelben Haus, aus dessen halb geöffneter Tür das laute Schreien eines Kindes zu hören war.
Braig stieg aus, lief die beiden Stufen hoch, drückte auf die Klingel. Das an- und abschwellende Signal übertönte das Schreien, ließ es dann völlig verstummen.
»Ja bitte?«
Braig hörte die kräftige Stimme einer Frau, die zur Tür kam und sie öffnete. »Frau Heller?«, fragte er.
Sie betrachtete ihn neugierig, wartete auf eine Erklärung.
»Braig. Meine Kollegin Neundorf«, wies er sich aus, »wir sind vom Landeskriminalamt.«
»Wie bitte?« Die Frau verdrehte erstaunt ihre Augen, dass es aussah, als schiele sie. »Und?«, fragte sie dann kurz.
Er streckte ihr seinen Ausweis entgegen, sah, wie sie ihn kritisch musterte.
»Sie wollen zu mir?« Sie schien Mitte dreißig, hatte lange hellblonde Haare, ein hübsches, rotwangiges Gesicht, trug ein hellgrünes Sweatshirt, dazu eine dunkle Jeans.
»Es geht um Frau Kindler«, erklärte Braig.
»Frau Kindler?«, wiederholte sie. »Aber heute ist mein freier Tag.«
»Damit hat es nichts zu tun. Es geht um Frau Kindler persönlich.«
»Dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Frau Kindler wohnt …« Sie wurde vom lauten Rufen eines Kindes unterbrochen, das sich aus dem Inneren des Hauses zu Wort meldete. Monika Heller wartete einen Moment, setzte ihren Satz dann fort. »Sie wohnt im Klaus-Röder-Weg, zweihundert Meter nach rechts.« Sie wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Danke. Wir kommen gerade von dort. Frau Kindler ist heute Nacht er …« Braig brach mitten im Wort ab, korrigierte sich, »gestorben.«
»Wie bitte?« Ihr Aufschrei war so laut, dass es ihm in den Ohren schmerzte. Fassungslos starrte sie ihn an. »Was sagen Sie da?«
Braig legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter, versuchte sie zu beruhigen. »Frau Heller, bitte, dürfen wir in Ihre Wohnung?«
Sie reagierte nicht, schien zu einer Statue erstarrt. Erst als ein kleiner Junge neben ihr auftauchte und kräftig an ihrer Hose zerrte, schien sie wieder zu sich zu finden. »Marianne ist …« Sie verzichtete darauf, den Satz zu vervollständigen, drückte die Tür vollends nach innen, trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie herein.«
Braig und Neundorf bedankten sich, folgten ihr durch eine geräumige, von Puppen, Tierfiguren und Bällen bevölkerte Diele in ein großes Zimmer, dessen breite Fenster sofort die Aufmerksamkeit der beiden Besucher auf sich zogen. Sie starrten nach draußen, sahen die weitläufigen Gärten, die Obstbaumwiesen, die Silhouette der Berge
Weitere Kostenlose Bücher