Schwaben-Gier
vergangenen Stunden einen ganzen Stapel Papiere ausgespuckt hatte. Er füllte Pulver und Wasser in die Kaffeemaschine, setzte sie in Betrieb. Als er zum Schreibtisch zurücklief, läutete das Telefon.
Ann-Katrin war in der Leitung. »Du bist wieder zurück?«, fragte sie.
»Der Weg nach Oettingen hat sich gelohnt. Ich habe Unterlagen über das Hotel gefunden.«
»Wenigstens ein Lichtblick«, sagte sie.
»Dir geht es nicht so gut?«
»Du fragst noch? Torsten hat sich erhängt.«
Braig benötigte einen Moment, zu begreifen. »Wie bitte?« rief er laut.
»In seiner Zelle«, sagte sie.
Er spürte, wie er am ganzen Leib zitterte, lief zu seinem Stuhl, setzte sich. »Und niemand hat es bemerkt?«
»Erst als es zu spät war.«
»Oh nein!« Er fühlte sich elend und schwach, wusste nicht, was er noch sagen sollte.
»Vor zehn Minuten habe ich es erfahren.«
Torsten Rails Bild baute sich vor ihm auf. Er sah den jungen Kollegen, Sandra Rehles im Arm, fröhlich lächelnd ihm gegenüber am Tisch sitzen, ein Glas Bier in der Hand. Ann-Katrins und Sandras Geburtstag, fiel ihm ein, im letzten Jahr.
»Sandra und Torsten«, sagte seine Freundin, »das war es dann.«
Sie schwiegen sich gegenseitig an, wussten nicht, was sie sich noch mitteilen sollten. Jede Äußerung war jetzt überflüssig, jedes Wort ein vergeblicher Versuch, vom Wahnsinn dieses Lebens abzulenken. Diese Welt war aus den Fugen, jede Existenz von Leid und Elend bedroht.
Braig merkte, dass Ann-Katrin den Hörer wortlos aufgelegt hatte, tat es ihr nach. Wozu sich gegenseitig noch länger quälen, wo es allein schon schlimm genug war?
Er hörte die Kaffeemaschine blubbern, roch den würzigen Duft. Wer hatte das Leben auf diesem Erdball entstehen lassen, wer die Menschen mit einem solchen Berg von Aggressionen versehen, dass niemals auch nur der Hauch einer Chance auf länger währendes Glück und Frieden bestand?
Michael Felsentretter stürmte ins Büro, riss ihn aus seinen Gedanken. Der bullige, groß gewachsene Kollege wedelte mit einem Blatt Papier, hielt es Braig so nah vors Gesicht, dass der es nicht entziffern konnte. »Ist doch was für dich«, donnerte er mit lauter Stimme, »Oettingen, dein Revier, oder?«
Braig erhob sich, nahm das Blatt, las den Text.
Vermisstenmeldung
Sabine Layer, wohnhaß in Oettingen, Klaus-Röder-Weg 12, geb. 1976, ledig. Letztes Lebenszeichen: Montag, 11. März, 19 Uhr. Die junge Frau ist Diplom-Geographin, arbeitet z.Zt. an ihrer Promotion an der Universität Tübingen. Beschreibung ihrer Person: 1,68 in groß, schlank, lange dunkle Haare, Bekleidung unbekannt.
Auffällig an ihrem Verschwinden: Ihr sonst nie freilaufender Hund Woody wurde streunend in Oettingen aufgefunden.
Verblüfft starrte er auf die Anschrift der Frau, sah den Zeitpunkt, für den ihr letztes Lebenszeichen verbürgt war: Montagabend, neunzehn Uhr. Der Termin war fast identisch mit der Uhrzeit, die Dr. Keil als Todeszeitpunkt Marianne Kindlers angegeben hatte.
»Und? Kannst du was damit anfangen?« Felsentretters dröhnende Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ich denke schon«, antwortete er, »soll ich es mir kopieren?«
Der Kollege winkte ab. »Auf meinem Schreibtisch liegt genug Papier.« Er schaute zur Anrichte neben dem Waschbecken, deutete auf die blubbernde Maschine. »Du willst gerade einen Kaffee trinken. Lass dich nicht aufhalten.« Er winkte ihm freundlich zu, marschierte aus dem Raum.
Braig überflog seinen massigen Körper, sah, dass er wieder zugenommen hatte. Wenn Felsentretter nicht besser auf seine Gesundheit achtete, kamen gravierende Probleme auf ihn zu.
Er fühlte sich müde und erschöpft von all dem, was in den letzten Minuten auf ihn eingestürmt war, stand von seinem Stuhl auf und lief zum Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, ließ die Tropfen von sich abperlen. Konnte das ein Zufall sein, überlegte er, eine Nachbarin aus derselben Straße zeitgleich mit dem Tod von Marianne Kindler vermisst?
Er schenkte sich Kaffee ein, gab Milch dazu, lief zum Schreibtisch, wählte Felsentretters Nummer. »Braig hier. Hast du schon Erkundungen über die Frau eingezogen, die vermisst wird?«
»Das hätte ich dir doch mitgeteilt«, brummte der Kollege, »ich denke, du kümmerst dich um die Sache.«
»Das werde ich tun.« Er trank von dem Kaffee, sah den Papierstapel vor seinem Faxgerät. Seufzend schob er die Vermisstenmeldung zur Seite, legte die Papiere auf seinen Schreibtisch,
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