Schwaben-Hass
Kapitel
Völlinger hatte Neundorfs Trick voll durchschaut. Der Mann ließ sich nicht bluffen.
Als die Kommissarin am Mittwoch morgen in ihr Büro kam, fand sie den Gesprächstermin bereits in ihrer Faxablage.
»Zehn Uhr. Dringende Unterredung mit Ministerialdirigent Orchitis im Ministerium. Bitte pünktlich erscheinen.«
Neundorf wusste sofort, weshalb. Die alte Seilschaft funktionierte wie immer. Von Bonze zu Bonze, ein kurzer Draht. Warum den gesetzlich vorgeschriebenen Weg einhalten? Wer die Macht hat, sorgt dafür, dass die anderen spuren. Und die Macht lag in diesem Land nun einmal in den Vorstandsetagen der Industrie.
Wozu hatte man die Politik und ihre Repräsentanten? Damit sie ausführten, was die Herren in den Machtzentralen wünschten. Alle Wege ebnen, alle Steine wegräumen, um die Geschäfte zu sichern und die Profite zu steigern. Punkt.
Ministerialdirigent Orchitis empfing Neundorf fünfundzwanzig Minuten nach Zehn in seinem Ministerium. Fünfundzwanzig Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt, als Demonstration der Macht.
Der große schlaksige Mann, die Verkörperung des schleimigen Widerlings, lächelte freundlich, reichte ihr seine schweißige Hand.
Neundorf begrüßte ihn, nahm Platz, ließ seine langatmigen Tiraden von Pflichten und Verantwortung eines Landesbeamten seinen Schutzbefohlenen gegenüber über sich ergehen. Dann folgte die Schallplatte von den Verdiensten der Führungspersönlichkeiten in Industrie und Wirtschaft, die durch ihre fleißige Arbeit die Grundlagen für die Existenz und das Wohlergehen der übrigen Bevölkerung schufen. Nach mehreren Minuten kam endlich das Stichwort: Völlinger.
»Führen Sie Ermittlungen irgendwelcher Art gegen Herrn Völlinger?« Orchitis lächelte sie freundlich an.
»Gegen einen Herrn Völlinger? Wer ist das? Wie kommen Sie darauf?«
»Kein besonderer Anlass. Mir kam nur so etwa zu Ohren.«
»Tut mir Leid. Da muss Sie jemand falsch informiert haben.«
»Es gibt also keine Aktivitäten seitens des LKA gegen Herrn Völlinger?«
»Ich kann nicht für das gesamte Amt sprechen. Mir jedenfalls ist nichts bekannt.«
Orchitis lächelte weiterhin freundlich. »Das ist gut so. Ich habe nämlich Ihre Vorgesetzten befragt. Denen ist ebenfalls nichts bekannt. Die sollten aber informiert sein, was ihre Mitarbeiter so treiben, nicht wahr?«
Neundorf blieb servil. Sie wusste genau, wie sie weiter vorgehen würde, hatte über Völlinger Erkundigungen eingezogen, sich Pläne zurechtgelegt. Von dem Herrn Ministerialdirigenten ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie nicht.
»Das sollten sie, in der Tat«, sagte sie mit fester Stimme, »so ist es schließlich im Dienstrecht verankert.«
Orchitis strahlte übers ganze Gesicht. »Sie kennen sich aus, werte Kollegin.« Sein Triumph sprach aus jeder Pore seiner Haut.
50. Kapitel
Die Tasse mit dem Earl Grey stand dampfend auf dem niedrigen viereckigen Tisch, verbreitete den herb-aromatischen Duft im ganzen Raum. Steffen Braig lehnte in einem der schmalen Ledersessel in Hofmanns Büro, beobachtete den Oberstaatsanwalt, der vorsichtig Milch in seinen Tee träufelte.
»Sie machen sich immer noch Vorwürfe?«
»Ich hätte es verhindern müssen.«
»Sie haben ihr das Leben gerettet.« Hofmann stellte das Milchkännchen zurück, rührte die Flüssigkeit langsam um. »Mehr konnten Sie nicht tun.«
»Der Kerl hielt die Pistole plötzlich in der Hand. Ich weiß nicht, warum ich nicht schneller reagierte.« Braig hatte die Szene fast ununterbrochen vor Augen. Ann-Katrin Räuber vor ihm, der Verbrecher mit der Waffe auf sie zielend, die junge Kollegin in sich zusammenfallend. Ihr Stöhnen, das Blut.
»Sie haben ihr das Leben gerettet.« Der Oberstaatsanwalt wiederholte seine Worte, legte ihm dann beruhigend den Arm auf die Schulter. »Es gibt genügend Augenzeugen, die genau sahen, wie Sie sich mit letzter Kraft nach vorne warfen und den Verbrecher zur Seite rissen. Genau in dem Moment, als er schoss. Deshalb ging die Kugel vorbei, streifte sie nur am Arm. Er hätte sie voll ins Herz getroffen.«
»Aber ich bin der Ältere, Erfahrene. Ich hätte sie nicht auf ihn zuspringen lassen dürfen.«
Hofmann schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Götter. Wie hätten Sie Frau Räuber daran hindern können – in der Notsituation? Die Frau ist jung, aber erwachsen. Ein Stück weit sind wir für unser Tun selbst verantwortlich. Sie trifft keine Schuld.«
Braig schwieg, dachte an seinen Besuch an ihrem Krankenbett am
Weitere Kostenlose Bücher