Schwaben-Herbst
Fraue ond oin Kerl?«
Sie versuchte, nicht auf das Geschrei zu hören, stülpte Schutzüberzüge über Schuhe und Hände, stieg vorsichtig über den Toten hinweg. »Ich sehe mich drinnen um«, erklärte sie.
Das Haus zeugte vom ersten Zentimeter an vom Reichtum seiner Bewohner. Große terrakottafarbene Fliesen auf dem Boden, helle, in einen Hauch von Grün getauchte Tapeten, teures, in einheitlich postmodernem Stil gefertigtes Designer-Mobiliar in allen Räumen. Sie durchquerte die überaus großzügig bemessene, hell ausgeleuchtete Diele, trat in den breiten Gang, wartete ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das gedämpfte Licht zweier Wandlampen gewöhnt hatten. Auf der linken Seite führten die Stufen einer breiten Treppe in die Höhe bzw. den Keller, geradeaus waren mehrere Türen zu erkennen. Sie entschied sich dafür, zuerst das Erdgeschoss in Augenschein zu nehmen, stieß auf eine moderne, im Ausmaß eines großen Wohnzimmers eingerichtete Küche. Die glänzenden Metallic-Fronten, der saubere Boden sowie das Fehlen jeglichen benutzten Geschirrs zeigten deutlich, dass der Raum erst vor Kurzem gereinigt worden war.
Weil der oder die Täter Hinweise auf ihre Identität vernichten wollten?
Neundorf wagte kein Urteil, betrat den nächsten Raum, ein von breiten, hohen Glasfronten geprägtes Domizil, das nur ein rechtwinkliges, mit einem überdimensional langen Seitenschenkel ausgestattetes weißes Ledersofa, einen niedrigen Tisch mit einem aufgeklappten Laptop, einer angebrochenen Bierflasche und ein großes Fernsehgerät mit modernem Flachbildschirm beherbergte. Sowohl die mehrflammige Deckenleuchte als auch drei an den Wänden angebrachte Halogenspots warfen ihre gesamte Leuchtkraft jetzt kaum erkennbar in den von hellem Tageslicht durchfluteten großen Raum. Ihr Blick richtete sich unwillkürlich auf die breiten Fenster, die ein wahrhaft atemberaubendes Panorama der Reutlinger Innenstadt rings um den hoch aufragenden Turm der Marienkirche präsentierten. Neundorf ertappte sich unwillkürlich bei dem Gedanken, wozu die Bewohner dieses Hauses noch ein Fernsehgerät benötigten, wenn ihnen Tag und Nacht dieser Anblick geboten wurde.
Sie trat zum Tisch, sah die im Sportteil aufgeschlagene Ausgabe des Reutlinger General-Anzeigers vom Vortag neben dem Laptop liegen, blätterte sie durch. Nichts Außergewöhnliches zu entdecken, keine weiteren Blätter, kein auffälliger Vermerk. Sie sah das Kabel, das den Laptop aus einer neben der Tür angebrachten Steckdose mit Strom versorgte, drückte die Leertaste, bemerkte, wie sich der Bildschirm des Geräts sofort mit einem Schachbrett und den dazu gehörenden Figuren überzog. Zugleich leuchtete die Aufforderung auf, den nächsten Zug zu tun. Sie musterte die brennenden Lampen, betrachtete die etwa zur Hälfte geleerte Bierflasche, ließ das Gerät eingeschaltet. Der Mann musste sich heute Nacht hier in diesem Raum aufgehalten haben, als er von seinem Mörder zur Tür gerufen wurde. Er hatte sich ein Bier geholt und war dabei, auf seinem Laptop Schach zu spielen, hörte es läuten, begab sich zum Eingang, öffnete. Kurz darauf oder im selben Moment waren die Säure-Attacke erfolgt und die tödlichen Schüsse gefallen. Hatte es sich so etwa abgespielt?
Neundorf verließ das große Wohnzimmer, betrat den gegenüberliegenden, in uneinsehbarer Dunkelheit verborgenen Raum. Sie suchte nach dem Schalter, ließ ein quer über die Decke reichendes Geflecht kleiner gelber, roter und terrakottafarbener Sterne aufleuchten. Ein breites Doppelbett, ein fast die gesamte Stirnwand überziehender Spiegel, schwere dunkelrote Gardinen, bis zum Anschlag heruntergelassene Jalousien, dazu am Fußende ein bis zur Decke reichender schwarzer Schrank – kein gewöhnliches Schlafzimmer, eher ein für romantische Momente gestyltes Refugium. Neundorf wandte sich einem in einen frisch polierten Glasrahmen eingefassten Foto auf einem der winzigen Nachttische zu, das ein verliebt in die Kamera lächelndes Paar zeigte: Ein gut aussehender Mann mit langen, fast bis auf die Schulter reichenden Haaren und eine nicht weniger gefällige, etwa dreißig Jahre junge Frau. Sie betrachtete die Gesichtszüge des Mannes, glaubte, Ähnlichkeit mit dem Toten entdecken zu können, auch wenn das angesichts des Zustands des Ermordeten nur in Ansätzen möglich war: Die schmale, langgezogene Form des Gesichts, seine langen Haare. Sie drehte den Rahmen um, fand keinerlei Kommentar auf der Rückseite, stellte ihn
Weitere Kostenlose Bücher