Schwaben-Sumpf
den Diebstahl zu Hause verfolgen konnten.«
»Sie haben es mit eigenen Augen gesehen?«
»Was glauben Sie? Natürlich haben wir es gesehen. Alfons und ich. Mit diesem Feldstecher, versteht sich.« Sie hatte Neundorf das schwarz lackierte Fernglas, ein großes, nicht allzu schweres Gerät, übergeben und sie dazu aufgefordert, selbst einen Blick auf die Umgebung zu werfen.
Die Kommissarin war ihrem Wunsch nachgekommen, hatte sich vor dem Fenster postiert und zuerst etwas geniert, dann von den Worten der Frau angespornt voller Konzentration auf die Straße gestarrt. Das Menschengetümmel am Rand der Fußgängerzone war anfangs nur verschwommen zu erkennen; erst nachdem sie die Schärfe korrigiert hatte, war sie von der Leistungsfähigkeit des Geräts überrascht worden. Passanten, die mit bloßem Auge kaum aus der Menge zu lösen waren, lagen jetzt plötzlich bis ins kleinste Detail vor Augen.
»Ja, begreifen Sie jetzt?«, hatte Magda Althauser ihre optische Exkursion ins Fußgängerzonenleben Reutlingens kommentiert. Und dann war sie nochmals zur genauen Beschreibung dessen, was sie vor fast einer Woche am Mittwochabend in Schwäbisch Gmünd beobachtet hatte, übergegangen. »Der hatte seinen A-Klasse-Daimler gerade abgestellt und war ins Haus gegangen, als der gelbe Citroën angefahren kam. Das Auto stoppte, und die Frau stieg aus. Blaue Jeans, dunkle Jacke. Blonde Haare. Ein schmales Gesicht und mittendrin die Stupsnase, ich sehe sie jetzt noch vor mir. Sie lief seelenruhig zu dem Daimler, stieg ein und dann fuhren sie los, hintereinander. Sie bogen um die Ecke und verschwanden.«
»Und der Fahrer des Citroën? Sie konnten ihn erkennen?«
Magda Althauser hatte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen können. »Die Kommunikation, wie man das heute nennt, klappt wohl nicht innerhalb der Polizei? Ich habe es Ihrem Kollegen ausführlich erzählt.«
Neundorf war ruhig geblieben, hatte auf die Fortsetzung des Berichts gewartet.
»Jetzt trinken Sie erst mal«, hatte ihre Gastgeberin gefordert, »das ist selbst gekelterter Apfelsaft.«
Sie hatte das Glas aus den Händen des Mannes entgegengenommen, dann die Erklärung aus dem Mund Alfons Althausers gehört.
»Die Fahrerin des Citroën? Wir schätzen sie auf Anfang sechzig. Sie hatte ein schmales Gesicht und trug eine dunkle Jacke. Sah der anderen ähnlich.«
Neundorf wusste später nicht mehr genau, was sie noch mit den Althausers besprochen, wie lange sie bei ihnen geblieben war. Die Beschreibung der Person, die das Tatfahrzeug in Schwäbisch Gmünd gestohlen hatte, war so präzis, dass sie nicht eine Sekunde benötigt hatte, darüber nachzudenken, um wen es sich handelte. Oft genug war sie ihr in den letzten Tagen begegnet, oft genug hatte sie das schmale Gesicht mit der charakteristischen Stupsnase vor sich gesehen.
Wie benommen war sie aus Reutlingen weggefahren, nur einen Gedanken im Sinn: Konnte das wirklich wahr sein? Erlag sie nicht einem großen Missverständnis, irgendeinem bisher noch nicht zum Vorschein gekommenen Fehler? War das jetzt tatsächlich das Ende ihrer Ermittlungen? Der Mord an einem krimineller Geschäftspraktiken überführten Manager – eine familiäre Tragödie?
Sie hatte die Stadt verlassen, schlug den Weg nach Esslingen ein. Alle Spekulationen, alles Sinnieren halfen nicht weiter, sie musste die beiden Frauen zur Rede stellen. Neundorf griff nach ihrem Handy, gab die Nummer des Amtes ein, fragte nach dem Fahrzeug, das auf Christa Kastner zugelassen war.
Stöhr hatte die Antwort innerhalb weniger Minuten parat. »Sie suchen das Kennzeichen?«
»Der Fahrzeugtyp genügt vorerst.«
»Ein Citroën vom Typ …«
»Danke, das reicht.« Sie brach das Gespräch ab, hörte noch das verwunderte Gestammel des Kollegen.
»Aber, aber, der genaue Typ …«
Gab es noch irgendeinen Zweifel? War nicht tatsächlich alles klar?
Sie passierte die immer weiter ausufernden Siedlungen und Städte am Neckar, Nürtingen, Wendlingen, Plochingen, sah das große Schild vor sich: Esslingen 6 km.
So einfach also sah die Lösung aus? Eine familiäre Tragödie, aus welchen Gründen auch immer. Und Meck, der große Strippenzieher im Hintergrund, war unschuldig – zumindest im Rahmen der Ermittlung, derentwegen sie sich seit Tagen so abquälte? Sie wollte es nicht glauben, spürte, wie sich alles in ihr gegen diese Erkenntnis sträubte. Das also war der Schlusspunkt ihrer Arbeit: Jetzt in Esslingen die beiden Frauen aufzusuchen und Catherine Heimpold
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