Schwaben-Sumpf
haben. Ich denke, Sie wissen, wovon ich spreche.«
Die Stimme ihrer Gesprächspartnerin dröhnte mit einer Urgewalt aus dem Lautsprecher, als stünde sie unmittelbar neben ihr. Das Volumen einer ausgebildeten Opernsängerin, überlegte sie, mindestens.
»Die Person? Haben Sie die endlich verhaftet?«
Neundorf benötigte ein paar Sekunden, zu einer Antwort zu finden. »Äh, so schnell …«
»Sie glauben mir also nicht?«, donnerte es vom anderen Ende der Leitung her.
»Frau Althauser, so schnell läuft das nicht. Wären Sie vielleicht so freundlich, mir Ihre Beobachtung noch einmal ganz genau zu erzählen?«
»Beamten-Bürokratie, wie soll es auch anders sein«, dröhnte die Stimme der Frau aus dem Lautsprecher. »Wo sind Sie? In Stuttgart? Kein Wunder!«
Neundorf hielt den Hörer eine Armlänge weit von ihrem Ohr weg, ließ den Donnerhall über sich ergehen.
»Die Alte im Rollstuhl kann nicht mehr bei Trost sein. Wer in dieser supermobilen Gesellschaft im Rollstuhl hockt, muss auch geistig beschränkt sein, richtig?«
Sie verzichtete auf jeden Widerspruch, ließ die Frau reden. Plötzlich, ohne jeden Übergang, kam sie zum Thema. Neundorf schwieg überrascht.
»Das haben Sie gesehen?«, rief sie, aus ihrer Starre erwacht.
»Mein Mann und ich«, donnerte die Stimme. »Wie oft wollen Sie es noch hören?«
Die Kommissarin hatte nur noch einen Wunsch. »Frau Althauser, ich muss persönlich mit Ihnen sprechen. So schnell wie möglich. Wann lässt sich das bewerkstelligen?«
»Das hängt von Ihnen ab. Ich bin hier in Reutlingen mitten in der Stadt und kann nicht weg. Wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie sich hierher bemühen, anders geht das bei meinem Zustand nicht.«
»Das ist kein Problem. Sagen Sie mir bitte die genaue Adresse, unter der Sie zu finden sind. In spätestens einer Stunde bin ich bei Ihnen.«
Magda Althauser hatte nichts einzuwenden, nannte mit ihrer dröhnenden Stimme die Anschrift und beschrieb ihr den Weg, auf dem sie zu finden war. Bei keinem Telefongespräch zuvor hatte Neundorf jemals so wenig Schwierigkeiten gehabt, alles genau zu verstehen.
31.Kapitel
Die Rückfahrt von Reutlingen erlebte Neundorf wie in Trance. Im Nachhinein kam es ihr vor, als sei es nicht sie selbst gewesen, die den Wagen durch das wirre Verkehrsgetümmel gesteuert hatte, sondern irgendein ferngesteuerter Roboter. Alles erschien ihr unwirklich, wie in einem Film. Ein Film, in dem sie nicht mitspielte, sondern den sie als Zuschauerin verfolgte. Konnte das Realität sein, was sie in der letzten halben Stunde vernommen hatte?
Es war einfach gewesen, die Wohnung der Schwester Frau Althausers zu finden. Kurz nach achtzehn Uhr war sie dort. Die Metzgerstraße lag mitten im Zentrum Reutlingens, der großenteils parallel laufenden Fußgängerzone in der Wilhelmstraße unmittelbar benachbart, sodass sich für die vor Neugier fast explodierende Frau im Rollstuhl und ihren nicht minder wissbegierigen Mann eine fast unübersehbare Fülle von Einblicken ins geschäftige Leben der Stadt ergaben.
Was für ein Paar! Schon an der Wohnungstür im ersten Obergeschoss, als sie die beiden zum ersten Mal zu Gesicht bekam, ertappte sie sich bei diesem Gedanken. Was für eine seltsame Kombination von Mann und Frau!
Alfons Althauser, ein schmächtiges kleines Männchen, höchstens einen Meter sechzig klein, knochig dünn, von blasser, fast durchscheinender Haut, mit einer ebenso schwachen, nach zwei, drei kurzen Sätzen jedesmal vor Kraftlosigkeit verstummenden Stimme.
Sie dagegen, Magda mit Vornamen, ein raumfüllendes Monstrum von Weib, eingezwängt in den viel zu engen Rahmen des Rollstuhls, trotz ihrer teilweisen Lähmung vor körperlicher und geistiger Energie strotzend, mit dunklen, ungebändigten Haaren und einem breiten, von dem nach vorne strebenden, energischen Kinn geprägten Gesicht.
Mit lauter, weithin hörbarer Stimme hatte sie sie empfangen, den Rollstuhl bis unmittelbar an die Tür vorgeschoben, ein markiges »Sieh an, die Kommissarin aus Stuttgart auf den Lippen.«
Neundorf hatte sie freundlich begrüßt, war dem Wunsch der Frau folgend vor ihr her in einen großen Raum gelaufen, dessen Mitte von Möbeln freigeräumt war, hatte dort auf dem Sofa Platz genommen, derweil die Gastgeberin ihren Mann damit beauftragte, drei Gläser Apfelsaft zu servieren.
»Wir sind hier bei meiner Schwester, die Wohnung hüten«, hatte Magda Althauser erklärt, »leider kann ich Ihnen deshalb nicht demonstrieren, wie gut wir
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