Schwaerzer als der Tod Thriller
nicht, als Vince Leone sie im Arm hielt, ihren Kopf an seine Brust drückte, ihr sagte, dass alles wieder gut werden würde, dass sie das alles durchstehen würde. Sie
ließ sich von einem Fremden trösten, und irgendwie hatte sie nicht mehr das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden. Sie fühlte sich… beschützt, sicher. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie eigentlich empfand.
Vince zauberte ein blütenweißes Taschentuch hervor und tupfte ihr sanft die Tränen von den Wangen, aber er schien es nicht eilig damit zu haben, sie loszulassen. Und Anne hatte es nicht eilig damit, losgelassen zu werden.
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihn an. Es kümmerte sie nicht länger, was er in ihren Augen entdeckte - Traurigkeit, Verletzlichkeit, Verlangen. Er drückte seine Lippen auf ihre und küsste sie lange und intensiv. Und als er sich wieder von ihr löste, drückte sie ihr Ohr an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag.
43
»Lasst ihr euch scheiden, du und Mom?«
Die Frage kam so unvermittelt wie ein Schluckauf oder Husten. Wendy öffnete den Mund, und die Wörter purzelten einfach heraus. Sie waren im Garten, neben dem Swimmingpool, weit weg vom Haus, wo ihre Mutter das Abendessen vorbereitete. Ihr Vater hatte sie von der Schule abgeholt und vorgeschlagen, eine Runde Werfen und Fangen zu üben, was sie schon lange nicht mehr gemacht hatten.
»Weil du nie zu Hause bist«, hatte sie gesagt.
Sie war müde und schlecht gelaunt. Sie glaubte fast, das Leben würde nie mehr so sein wie vorher, bevor sie die Leiche im Park gefunden hatten. In der Schule war alles anders. Tommy war anders. Alle behandelten sie anders. Ihre Eltern waren anders. Es war ätzend.
Ihre Frage ließ ihren Vater mitten im Wurf innehalten. Er
wirkte erschrocken, was aber nur zeigte, wie ahnungslos Erwachsene waren. Gerade so, als würden sie glauben, ihre Kinder hätten keine Ohren oder würden nicht im gleichen Haushalt leben oder bekämen nicht mit, was um sie herum vorging.
»Nein«, sagte er und kam zu ihr herüber. Er versuchte, es mit einem Lachen abzutun - als könnte eine solche Frage jemals als Witz gemeint sein. »Nein. Wie kommst du denn auf die Idee, Wendy?«
Wendy verdrehte die Augen. »Dad, ich bin kein Baby mehr. Ich weiß, was hier läuft.«
»Was hier läuft?«, wiederholte er und setzte sich auf eine Steinbank. Er zog seinen Baseballhandschuh aus und legte ihn neben sich. Wendy tat es ihm nach.
»Die Leute haben Affären«, sagte sie. »Ich weiß Bescheid.«
Das tat sie natürlich nicht. Nicht richtig. Es ergab keinen Sinn für sie. Man heiratete jemanden doch nur dann, wenn man ihn liebte, und warum sollte man sich dann eine Affäre aufhalsen? Nach dem, was sie im Fernsehen gesehen hatte, war es die Sache niemals wert, und allen, die daran beteiligt waren, ging es schlecht.
Ihr Vater kratzte sich am Kopf und überlegte, was er antworten sollte. »Hat deine Mutter etwas zu dir gesagt?«
»Nein, aber das liegt daran, dass sie überhaupt nichts mehr macht außer weinen, aber immer nur heimlich.«
»Schatz, deine Mom ist durcheinander wegen alldem, was diese Woche passiert ist: dass du diese Leiche gefunden hast, und was der Farman-Junge dir angetan hat …«
»Ich habe euch streiten hören«, spielte sie ihren Trumpf aus. Er konnte ja nicht wissen, was oder wie viel sie tatsächlich gehört hatte.
Er schloss die Augen und seufzte, dann stützte er die Unterarme auf die Oberschenkel und ließ die Hände zwischen
den Knien baumeln. Er sah müde aus und vielleicht ein bisschen verärgert.
»Es gibt Dinge, die deine Mom einfach nicht versteht«, sagte er kurz angebunden, fast geschäftsmäßig. »Dinge, die ich tun muss. Manchmal muss ich wegfahren. Das ist eben so. Inzwischen sollte sie sich daran gewöhnt haben, aber das war eine schwierige Woche. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Schatz. In Ordnung?«
Wendy hätte am liebsten nein gesagt, aber sie hatte das Gefühl, dass er dann böse werden würde. Außerdem war ihre Mutter auf die Terrasse gekommen, um sie zum Abendessen zu rufen.
Tommy ging in das kleine Arbeitszimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, der zum Wohnzimmer führte. Er war gern in diesem Zimmer mit dem Schreibtisch seines Vaters und den Ledersesseln. Die Bücherregale waren mit allen möglichen Büchern vollgestellt. Oft zog er aufs Geratewohl eines heraus, einfach um nachzusehen, was darin stand.
Am liebsten mochte er die Encyclopaedia
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