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Schwätzen und Schlachten

Schwätzen und Schlachten

Titel: Schwätzen und Schlachten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Roßbacher
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weitere Patienten in die Flucht zu schlagen? Ist er –
    Und so weiter, sagte Glaser, und so weiter und immer weiter. Vielleicht warst du krumm demütiger, ich weiß es nicht. Heutzutage bist du mit Abstand der geschwätzigste Mensch, der mir je untergekommen ist.
    Ich bin nur nicht so verklemmt. Vielleicht brauchst du auch einmal einen Chiropraktiker, vielleicht hast du dir was eingezwickt.
    Eingezwickt! Willst du noch zur Sache kommen, bevor es einnachtet?
    Du bist ein langweiliger Mensch, sagte Sydow vergrämt. Was willst du denn?
    Einfach nur Fakten, schnöde, nackige Fakten.
    Sie haben sich in der Tür geirrt, sagt der Nachbar, er deutet auf das Schild mit der durchgestrichenen Blume. Hier, liest er vor, hier nicht Praxis Dr. Blume, Eingang um die Ecke. Er schickt die Krummen und Dummen um die Ecke. Praxis Dr. Blume. Ein spektakulärer Arzt. Warf sich ohne Vorwarnung auf mich und griff mir tief ins Eingeweidliche, hätte ich meine Pistolen dabeigehabt, ich hätte ihn erschossen.
    Du hast keine Pistolen.
    Hätte ich Pistolen, hätt ich sie dabeigehabt, hätt ich ihn erschossen.
    Okay.
    Der Konjunktiv hat mich vor einem kapitalen Fehler gerettet, verstehst du? Dr. Blume hat mich geheilt, was aber wäre es mir nütze, wenn ich dann, nicht mehr krumm, aber eingesperrt, in einem Kerker säße.
    Das heißt nicht mehr Kerker.
    In Sing-Sing.
    Du bist furchtbar.
    Geheilt zog ich von dannen, sah das erste Mal in meinem Leben Krähen fliegen und einen arglosen Mann überfallen –
    Anfallen.
    Anfallen, ich glaube, es war ein armer Allergiker, er ging hinab zum Fluss und wollte weinen und dann so was, Hunderte, was sage ich, Tausende von hungrigen Krähen, die sich auf ihn stürzten und –
    Na gut.
    Sie schwiegen eine Weile, der Tag suppte so dahin, eine Art Erschöpfung, der Mensch, der Tag, das Tier in seinem Bau, alles war erschöpft und ging schon krumm.

35. Familientreffen sind schön

    Ja, sagte Sydow verträumt. Das Nervenfieber. Pommern. So heißt das in den Büchern, in denen an Nervenfieber gelitten wird. Das eine ist ein Fall für die Psychiatrie, das andere heißt jetzt nicht mehr so. Brandenburg. Oder Mecklenburg.
    Und ist sie da manchmal?
    Die Oma? Ja.
    Ja und?
    Ja! Sie ist da manchmal! Und ein Haufen anderer Leute, die, wenn du sie siehst, den Gedanken an die anatolische Großfamilie gar nicht so verkehrt aussehen lassen. Meine Oma organisiert dort immer Familientreffen zum Fürchten. Aber was heißt Familientreffen, wo fängt eine Familie an, wo hört sie auf? Sydows aus dem hintersten Winkel der Welt treffen sich dort winters unterm Weihnachtsbaum, verbraten ganze Schweinesippen, verheizen den Hausforst im Kamin und suchen im Weinkeller nach dem Wein, den sie vor Jahren schon ausgetrunken haben. Ist man, nur weil man zufällig denselben Namen trägt, gleich eine Familie? Ich bezweifle das. Sie essen einfach gerne Schweinebraten. Sie finden den Osten irgendwie originell. Sie fahren einfach gerne nach Pommern. Sie mögen meine Oma. Alle mögen meine Oma. Das alles hat doch mit Familie nichts zu tun. Wie die meisten Leute sind sie verkappte Trinker. Ist das Familie? Kann schon sein. Sie kommen und verheizen den Ostwald, aber der hatte es immer schon schwer. Früher der Tagebau, man holzt ihn ab, heute meine Familie, holzt ihn ab. Für den Ostwald hat sich seit der Wende überhaupt nichts verändert, das ist bei dem Wald dort oben in etwa so wie bei den Russen in der russischen Provinz. Bei den russischen Bauern, wenn man ihnen was vom Kreml erzählt, von der Landkarte auf dem Kopf von Gorbatschow, dem trinkfesten Jelzin, der gefährlichen Blässe eines Putin, fragen sie verständnislos nach dem Zaren und seiner Gesundheit.
    Ich halte das für ein Gerücht, sagte Glaser.
    Ich halte das für hundertprozentig wahr. Wir können es aber ausprobieren. Ich wette, dass die von uns befragten Bauern ganz erleichtert sind, wenn endlich ein vernünftiger Mensch kommt und mit ihnen über den Zaren spricht und seine Gesundheit. Um die steht es nämlich schlecht, sagen wir zu den russischen Bauern, und sie werden in dieses traditionelle russische Wehklagen ausbrechen und sagen, dass sie das schon befürchtet hätten, weil sie so lange nichts von ihm gehört haben. Vielleicht treffen wir noch auf ein zwei Fälle von Nervenfieber. Wundern würds mich nicht. Meine Verwandtschaft aus der großen, weiten, westlichen Welt ist da ähnlich. Die Wende, die Mauer, sie verbinden damit nichts. Glasnost und Perestroika, das können

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